Über die Auslegung der Lehre zu streiten, ist etwas ganz Normales. Dass wir die Diskussion aber oft so verstehen, als sei sie gegen das Judentum gerichtet, liegt in der Dramaturgie der Evangelien.
Ausgabe: 2018/03
16.01.2018 - Markus Himmelbauer
Über die Auslegung der Lehre zu streiten, ist etwas ganz Normales. Dass wir die Diskussion aber oft so verstehen, als sei sie gegen das Judentum gerichtet, liegt in der Dramaturgie der Evangelien.
Die Evangelisten überliefern die Lehrgespräche nicht nur inhaltlich, sondern versehen sie auch mit einer eindeutigen Richtung. Markus (in den Kapiteln 2 und 3) etwa umrahmt die Diskussion um den Sabbat mit einer missgünstigen Charakterisierung der Pharisäer: Jene „suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn“, schreibt Markus. Und weiter: Jesus „sah … voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz.“ Später treten Pharisäer auf, „um ihn mit einer Frage in eine Falle zu locken.“ (Mk 12,13) In der abschätzigen Darstellung der Pharisäer spiegelt Markus einen Konflikt in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts.
Zu Gast
Dass die Beziehungen nicht immer so konfliktbeladen waren, zeigen andere Bibelstellen. Bei Matthäus empfiehlt Jesus ausdrücklich, sich an die Pharisäer zu halten, da sie die Lehre in der Tradition des Mose bewahren: „Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen (...).“ (Mt 23,2) Bei Lukas fragt ein Gesetzeslehrer nach den Bedingungen, das ewige Leben zu erlangen und nennt dafür das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe. Jesus bekräftigt: „Du hast richtig geantwortet.“ (Lk 10,28) Laut Lukas war Jesus auch öfter bei Pharisäern zu Gast, der Pharisäer Nikodemus ist bei Johannes ein suchender Sympathisant des Rabbi Jesus.
Heiligung
„Ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.“ (Ex 19,6) Dieser Satz, den der Ewige in der Tora spricht, ist die Grundlage für das pharisäische Programm: die Heiligung des Alltags. Dafür weiteten die Pharisäer die Reinheits- und Speisegebote, die ursprünglich nur für den Priesterdienst am Tempel galten, auf das alltägliche Leben des ganzen Volkes aus. Neben die schriftliche stellten sie eine mündliche Tora. Diese leiteten sie ebenfalls von der Sinai-Offenbarung her, so dass diese dieselbe Autorität erhielt wie die schriftlich überlieferte. Mit Hilfe der mündlichen Tora fragten sie nach den konkreten Möglichkeiten der Heiligung des Alltags.
Weite
Mag sein, dass die Auslegung Jesu sich von anderen Gruppen unterscheidet. Wir können dieses Neue und anders Sein einfach feststellen, ohne das Andere abzuwerten oder gar für gegenstandslos zu erklären. Gegen ein zu enges Verständnis, was vermeintlich „richtige“ oder „falsche“ Lehre sei, lässt das Judentum einen breiten Spielraum. So überliefert der Talmud folgende Legende: Mose kommt ins Lehrhaus des Rabbi Akiba (ca. 50 bis 135 n. Chr.) und setzt sich in die Reihen der Schüler. Mose versteht aber nicht, was da gelehrt wird und ist deswegen sehr betrübt. Plötzlich hört er, wie einer der Schüler den weisen Lehrer fragt, woher er all das wisse, was er lehre. Rabbi Akiba antwortet: „Alles, was ich lehre und aus der Tora neu darlege, ist eine unmittelbare Wiedergabe dessen, was Mose auf dem Berg Sinai empfing.“ Nach der Legende fühlte sich Mose von diesen Worten getröstet. «
Die Evangelien als jüdische Texte
Betrachtungen zum Tag des Judentums von Markus Himmelbauer Teil 3 von 4