"Das ist meine Mutter", sagt Jawid. Auf dem Handy-Foto ist eine Frau in Afghanistan zu sehen. Mit bodenlangem Mantel und einem Umhangtuch in tiefem Himmelblau.
Eine Weihnachtserzählung.
Ausgabe: 2017/51
20.12.2017 - Matthias Thuregger
Andere Großmütter backen Kekse um diese Zeit!“, diesen Vorwurf hört Barbara jetzt öfter, wenn sie über ihr Smartphone wischt. „Schau doch“, sie hält ihrem Mann das Handy unter die Nase: Über das Display tanzt sekundenlang ein zartes Mädchen in einem Tüllröckchen. Lenchen, das Enkelkind in London. „Sie schreiben, dass sie kommen!“, freut sich Barbara, „was denkst du, wie ich ohne Handy alle meine Lieben unter meinen Christbaum bringe?“ Sie kommen aus London, Prag, Wien und aus der näheren Umgebung. Schmausen, plaudern, musizieren. Für Barbara der Höhepunkt des Jahres.
Vor einem Jahr war auch Jawid beim Verwandtentreffen am Christtag dabei. Der junge, scheue Afghane hatte vor der Krippe eine Sure aus dem Koran rezitiert. Zur Verwunderung aller: Die Verkündigung des Erzengels Gabriel an Maria. Jawid ist weg. Er sollte abgeschoben werden. Ein Schock! „Ich habe Angst“, war die letzte Nachricht, die Barbara von ihm aufs Handy bekommen hat. Seitdem ist er verschwunden. Barbara schaut aus dem Fenster. Dunkle Rebreihen zeichnen sanfte Linien in die verschneite Landschaft. Jetzt ist es ein Vierteljahr her, dass sie da draußen mit Jawid gestanden ist, im Blick den herbstlichen Weingarten und den tiefblauen Himmel. „Wir haben daheim auch einen ... einen Traubengarten“, sagte der Afghane versonnen. „Ich habe meinem Vater geholfen. Immer.“ Ein Daheim, das es nicht mehr gibt. Der Vater, tot. Die Taliban! „Geh weg, geh in ein anderes Land!“, hatte die Mutter ihrem Ältesten sagen müssen, „sie fangen sich Kindersoldaten!“ Jawid war dreizehn. Seitdem hat er seine Mutter nicht mehr gesehen. Mit einem Cousin flüchtete er in den Iran. Illegaler Arbeitssklave am Bau – alles besser als Talibankrieger. Vor zwei Jahren kam er über den Balkan nach Österreich. Hier kaufte er sich ein Handy und bekam Verbindung mit seinem Bruder in einem Lager in Pakistan.
Jawid. Er starrte in den Himmel über dem Weingarten und war tausende Kilometer weit weg. Dann dreht er sich langsam um und hielt Barbara sein Handy hin. Auf dem Display ein Foto. Eine fremde Frau. Der bodenlange Mantel und das Umhangtuch in tiefem Himmelblau. Ein unverhülltes Gesicht, tiefernst. „Meine Mutter“, sagte Jawid. Woran erinnert mich das?, dachte Barbara. Woran? Ja, das ist es! Padua. Die Geburt Jesu, von Giotto, dem Künstler, der im 13. Jh. begann, den Himmel blau statt golden zu malen. Und Maria in Blau. Kein Lächeln. Eine Mutter, die ihr Kind mit ihrem Blick festhalten will. Die ahnt, dass sie es hergeben muss. „Meine Mutter“, sagte Jawid noch einmal. Er strahlte. „Geh zu ihr nach Afghanistan zurück“, sagte Barbara, „sie wartet auf dich“. „Ja! Sie wartet auf mich!“ Das eben noch glückselige Kindergesicht wird auf einmal starr und verschließt sich. Panik flackert in den Augen: „Ich kann nicht!“ „Wieso?“ „Die Taliban!“ Barbara schrubbt, wischt, scheuert wie eine Wilde. Heute braucht sie das. Als Ventil für Wut und Trauer. In ihrem Kopf der Satz aus Jawids Abschiebungsbescheid: „Jene Gegend, in der Sie wohnhaft waren, wird teilweise von Taliban besetzt, sodass eine Rückführung in ihr Heimatdorf an sich nicht möglich ist.“ Weg muss er trotzdem. Nach Kabul. „Ich habe Angst!“ So etwas sagt kein Afghane. So etwas schreibt ein verzweifeltes Kind einer fremden Oma ins WhatsApp. Nacht für Nacht. Barbara raubt das den Schlaf. Es klingelt. Barbara stolpert über den Kübel. In der Tür Evi, die Enkelin, mit einem Plastiksackerl in der ausgestreckten Hand: „Da ist dein Tuch, Oma, danke!“, sprudelt sie hastig hervor. „Die Lehrerin hat mir ein anderes gegeben!“ Und schon ist sie wieder fort. Wieso das? Evi darf heuer bei der Weihnachtsaufführung die Maria spielen. Wunderbar hat dieser weiche Stoff in tiefem Giotto-Blau zu ihrem zarten Gesicht gepasst. Als Barbara das Tuch auseinanderfaltet, sieht sie das Malheur: Ein Riss, mitten im Blau. Ein Riss, denkt sie, wie er jetzt durch ihre Verwandtschaft geht. Die einen kämpfen für die Menschlichkeit, die anderen meinen, ihre Heimat gegen alles Fremde verteidigen zu müssen. Barbara traut sich heuer nicht mehr am Christtag einen Flüchtling einzuladen. Traurig legt sie das Tuch zusammen. Wo wohl Jawid jetzt ist? Während sie die Wasserhähne blank reibt, gewinnt sie ihre Energie zurück. Sie wird ihn finden, den Sohn der Frau mit dem blauen Umhangtuch. Wozu hat sie auf ihrem Smartphone ein Netzwerk von Kollegen und Migranten, wozu gibt’s Facebook und WhatsApp? Zwei Tage später ist das Foto auf ihrem Display: Porte de la Chapelle in Paris. Drei im Dunklen schwer erkennbare Typen im Schlafsack. Nachts im Freien. So wie Hunderte andere. Der Mittlere könnte Jawid sein. Barbara zoomt. Schärft. Er ist es. Mit neuen Zügen im Gesicht: Bitterkeit, Entschlossenheit. Am nächsten Tag kommt Enkelin Julia aus Wien vorbei. Mit ihrem neuen Freund aus Neuseeland. Isaiah, heißt der, wie der Weihnachtsprophet. Ischa für seine Freunde. Ein begnadeter Musiker. Mit seinem Saxophon reist er durch die halbe Welt und gibt Konzerte. Zum Beispiel nächste Woche in Paris. Paris! Barbara klappt ihr Handy auf und zeigt ihm das Foto: Jawid und seine Freunde, in Schlafsäcken auf der Straße. Es hat funktioniert! Noch vor dem großen Familientreffen ist Ischa wieder zurück und erzählt: Er wurde gleich beim Ausgang der Metrostation Porte de la Chapelle angesprochen. Nun ja, weißblonde Mähne, fast zwei Meter groß, so hatte ihn Barbara ihrem Kontaktmann beschrieben. Gleich war er von einem Dutzend junger Afghanen umringt. Kekse und eine Thermoskanne mit heißem Tee hatte er dabei. Und für Jawid noch eine flauschige Decke. In tiefem Himmelblau. „Denk an den Himmel über dem Traubengarten“, sollte er ausrichten, „der Himmel ist immer da. In deinem Herzen. Du kannst ihn nicht verlieren“. Jawid verstand, drehte seinen Kopf weg. Ein Afghane weint nicht. Ischa hatte seine Mundharmonika dabei. „We shall overcome“, „Hallelujah, hallelujah” und „Jingle Bells“. Ein Afrikaner schälte sich aus seinem Schlafsack: „Silent Night …“. Es klang wie Louis Armstrong. Zwei begannen auf Blechkanistern zu trommeln. Beine stampften dazu auf den Asphalt, Arme flogen in die Höhe. Die jungen Männer tanzten, als wären sie auf einem Fest. In ihrer Heimat. „Polizei!“ rief einer, Trommeln und Tänzer stoppten. Nur Ischa blies seelenruhig auf seiner Mundharmonika einen Bach-Choral: „Vom Himmel hoch …“. Jetzt muss Barbara den Kopf wegdrehen, um ihre Rührung zu verbergen. Gleichzeitig ist ihr so leicht zumute. Sie ist sicher, dass sich für Jawid ein warmes Bett finden wird, irgendwo im großen Paris. Sie fürchtet nicht mehr um den Frieden bei der weihnachtlichen Familienfeier. Ischa wird spielen und Lenchen wird tanzen. Die Tische werden mit blauem Damast gedeckt sein. Friede den Menschen auf Erden.
Die Geschichte ist keine Dokumentation, sie ist ein Beispiel für mehrere ähnliche Schicksale.