Ende Oktober 2016 wird Papst Franziskus zum ökumenischen Reformationsgedenken im schwedischen Lund reisen. Im Vorfeld des Jubiläums zum 500. Jahrestag der Reformation wirft der katholische Theologe und Ökumeniker Wolfgang Thönissen einen Blick auf den Stand und die Entwicklung in der Ökumene. Teil 1 von 4.
Ausgabe: 2016/38
20.09.2016
Die Geschichte der christlichen Kirche begleitet von Anfang an das Ringen um ihre Einheit. Schon im fünften Jahrhundert kam die Gemeinschaft mit den orientalisch-orthodoxen Kirchen zum Erliegen. Ab dem 11. Jahrhundert gingen die orthodoxen Kirchen des Ostens und die lateinische Kirche des Westens eigene Wege. Der Streit über fundamentale Fragen des christlichen Glaubens löste am Ende des Mittelalters eine tiefgreifende Spaltung der abendländischen Kirche aus.
Autoritätskonflikt um den Papst
Am Anfang stand der Ablassstreit des Jahres 1517. Der Konflikt um Buße und Ablass war der Auslöser, der Autoritätskonflikt um den Papst entwickelte sich schließlich zur Hauptursache der Streitigkeiten. Die von Martin Luther ausgehende Wittenberger Reformbewegung wollte Missbräuche im kirchlichen Leben beheben. Die Reformatoren forderten die Messe in deutscher Sprache, die Kommunion unter beiderlei Gestalt, die Priesterehe, die Aufhebung der Mönchsgelübde und die Reform des Papstamtes. Als theologische Kernfragen schälten sich heraus: die Rechtfertigungsfrage, das Verständnis der Eucharistie als Opfer, das Amts- und Ordinationsverständnis, das Verhältnis von Schrift und Tradition. Die Spaltung der abendländischen Kirche nach 1530 in Konfessionen wird durch den Konfessionalismus, das heißt durch Abgrenzung und Abschottung auf Jahrhunderte hin, zementiert.
Ökumenischer Dialog
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen christliche Kirchen in England und Amerika, vor allem die anglikanischen Kirchen, mit der Suche nach der sichtbaren Einheit. Sie trieb die Einsicht um, Christen können das Evangelium nicht wahrhaftig verkünden, wenn sie untereinander keine sichtbare Einheit haben. Der 1948 in Amsterdam gegründete Ökumenische Rat der Kirchen, dem heute mehr als dreihundert nichtkatholische Kirchen angehören, und der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geführte ökumenische Dialog haben das Leben der Kirchen wie kaum eine andere religiöse Bewegung im zwanzigsten Jahrhundert nachhaltig bestimmt.
Weg zu sichtbarer Einheit im Glauben
Das zwanzigste Jahrhundert ist in der Tat ein Jahrhundert der Ökumene geworden. Es wurde viel erreicht: die von den Kirchen geführten Gespräche und theologischen Dialoge weltweit, das gemeinsame Gebet für die Einheit der Christen, der gemeinsame Einsatz für die elementaren Fragen der Menschen und ihres Zusammenlebens in der Welt, die Charta Oecumenica für Europa, die gegenseitige Anerkennung der Taufe, die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" zwischen Lutherischem Weltbund und römisch-katholischer Kirche. Der Eindruck, dass die Spaltung der Christenheit nicht bis in die Wurzel des gemeinsamen christlichen Erbes gedrungen ist, scheint sich auch theologisch bestätigt zu haben. Die christlichen Kirchen und Gemeinschaften sind auf dem Weg zu einer sichtbaren Einheit im Glauben. Wenn auch niemand den Zeitpunkt kennt, an dem Christen weltweit wieder gemeinsam das Abendmahl und die Eucharistie miteinander teilen, die Hoffnung auf Wiederherstellung der sichtbaren Einheit unter den Christen hat sich offenbar als fruchtbar erwiesen.