Gibt es keinen Winkel mehr, in den keine Kamera dringt, der nicht vom grellen Scheinwerferlicht an die Öffentlichkeit gezerrt wird?Gibt es kein Ereignis mehr, das heilig wäre, nur der Stille oder dem Erleben der unmittelbar Betroffenen überlassen zu sein?Gibt es keine Trauer, kein Glück, keine Not, kein Wunder mehr, das nicht sofort mit hundert Bildern und tausend Worten der Privatheit entrissen und der gierigen Öffentlichkeit vor Aug und Ohr geworfen wird?Fernsehzuschauer und Leser von Massenblättern werden mit Geschichten von Not und Rettung gefüttert. Je auswegloser die Situation und je spektakulärer die Hilfe, desto besser läßt sich die Story verkaufen. Unglück und die unglaubliche Wende zum Guten sind Quotenbringer, steigern Einschalt- und Auflagenzahlen. Wo aber bleibt die Menschlichkeit?„Liebes, gnädiges Fräulein“ rief der ORF-Reporter aufgeweckt einer Frau nach, die er vor sein Mikrophon und die Kamera wollte, als er live auf Sendung aus Lassing war. Es war Sonntag-Abend, kurz vor der geglückten Bergung des zehn Tage verschütteten Bergmanns. Der ORF-Mann war auf Wort-Fang, nachdem nur Minuten vorher das Wunder „Georg Hainzl lebt!“ bekannt wurde. Der Reporter fing in einer Situation Worte, in der Menschen zu keinen Worten fähig sind. Aber Öffentlichkeit braucht Bilder und Worte. Jede/r von uns konsumiert diese Öffentlichkeit. Und wir stehen bei der „Henne-Ei Frage“: Sind die Medien so, weil es die Medien-Konsumenten so wollen oder sind die Medien-Konsumenten durch das Dauerbombardement der Medien so geworden. Schön aber wäre es, würde diesem Voyeurismus eine Quoten-Abfuhr erteilt.Ernst Gansinger