Wort zum Sonntag
Vor über 40 Jahren, am 17. Jänner 1982, wurde Maximilian Aichern OSB im Linzer Mariendom zum Bischof geweiht. In fast 24 Jahren Amtszeit hat er die Diözese Linz entscheidend geprägt und gestaltet. Auch als emeritierter Bischof steht er für eine menschenfreundliche, ermutigende und hoffnungsfrohe Kirche.
Ein wacher Blick, ein herzliches Lächeln, ein phänomenales (Namens-)Gedächtnis und eine kräftige Stimme, mit der er sich bis heute einbringt: Dass Bischof em. Maximilian Aichern OSB am 26. Dezember 2022 seinen 90. Geburtstag feiert, merkt man ihm kaum an.
Würden ihn seine Beine nicht in seiner Bewegungsfreiheit einschränken, wäre er wohl noch mehr unterwegs, als es ohnehin der Fall ist. Nach wie vor besucht er regelmäßig die Pfarren zu Jubiläen, Firmungen und Begräbnissen und nimmt an kirchlichen sowie gesellschaftlichen Veranstaltungen teil.
Längere Ruhezeiten sind Bischof Aicherns Sache nicht. Zu groß ist sein Interesse an der Kirche, der Gesellschaft und an den Menschen. Ein Interesse, das immer schon weit über Diözesangrenzen hinausreichte.
Bischof des Volkes, Bischof mit den Menschen, Sozialbischof Österreichs, Ermutiger, Brückenbauer, sozialer Mahner, Ermöglicher neuer Wege – dies sind nur einige der Attribute, die Bischof em. Maximilian Aichern zugeschrieben werden.
Als Sozialbischof war er Motor für Initiativen, die über die Diözese, ja über Österreich hinaus Strahlkraft entwickelten: Er war Gründungsbischof der Bischöflichen Arbeitslosenstiftung, Initiator des Sozialhirtenbriefs der Bischöfe Österreichs, des Ökumenischen Sozialwortes der christlichen Kirchen und der Allianz für den freien Sonntag. Das Oberösterreich-Bündnis der Sonntagsallianz feierte im Oktober 2022 sein 25-jähriges Bestehen und wurde nach seiner Gründung dank Bischof Aichern auch auf österreichischer und europäischer Ebene verankert.
Der von ihm vor über 25 Jahren gegründete Osthilfefonds unterstützt bis heute Partnerdiözesen in Mittel- und Osteuropa.
„Aggiornamento“ und „Coraggio“, Verheutigung und Mut – diese beiden Worte gehören zum Grundvokabular von Bischof Maximilian Aichern. Bis heute sind Dialogfähigkeit und Menschennähe sein Markenzeichen.
Sein biblischer Wahlspruch als Bischof lautet: ‚In caritate servire – in Liebe dienen‘. Er ist bis heute sein Leitsatz, wie Aichern in der Dezember-Ausgabe des diözesanen Mitarbeiter:innen-Magazins spirit betonte: „Die Liebe zu Gott und den Mitmenschen ist unser Hauptgebot und Wegweisung für unser ganzes Leben und Wirken.“
Bischof em. Aichern lebt in Linz und bringt sich nach wie vor in das kirchliche und gesellschaftliche Leben in Oberösterreich ein.
Herr Bischof, wie geht es Ihnen?
Maximilian Aichern: Gut. Ich bin eingebunden in das Wirken unserer Diözese und habe nach wie vor viele Kontakte in mein Heimatkloster St. Lambrecht-Mariazell. Immer wieder werde ich zu diözesanen und pfarrlichen, aber auch gesellschaftlichen Veranstaltungen eingeladen und kann meinem Alter und meiner Gesundheit entsprechend manches im kirchlichen und gesellschaftlichen Bereich tun. In manchen Fragen, vor allem im sozialen und gesellschaftlichen Bereich, kann ich vielleicht beitragen, dass Kooperationen, die wir in er Vergangenheit aufgebaut haben, weitergehen und vertieft werden.
Wie verfolgen Sie die Lage der Kirche in Österreich und die Entwicklungen in Rom?
Aichern: Für manche Initiativen bin ich dankbar. Besonders froh bin ich, dass wir Papst Franziskus haben. Manches macht mir auch Sorgen. Dennoch bin ich optimistisch: Der Glaube an Gott und Jesu Zusicherung, immer bei uns zu sein, geben Vertrauen und Hoffnung, dass sich notwendige zeitgemäße Entwicklungen als positiv erweisen.
Der synodale Weg in Deutschland macht mutige Vorschläge zur Kirchenreform. Sie haben sich einst für die Diakonenweihe für Frauen eingesetzt. Wie stehen die Chancen heute?
Aichern: Ich glaube trotz mancher Rückschläge daran, dass die Diakonatsweihe für Frauen nicht aufzuhalten ist, weil es sie schon einmal gab. Das Gleiche gilt für mich für die Priesterweihe von verheirateten Männern – und vielleicht sogar von Frauen. Ich meine, die Diakonenweihe für Frauen liegt schon sehr nahe. Und ich bin überzeugt, dass auch verheiratete Männer Priester werden können. Alles braucht seine Zeit. Die Amazonassynode hat da eine Richtung vorgezeichnet und ich würde mir wünschen, dass noch unter Papst Franziskus Folgerungen umgesetzt werden.
Die Strukturreform der Diözese Linz setzt auf den Einsatz von Laienseelsorger/innen und ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen. Ohne sie ginge es nicht. Ab wann war lhnen klar, dass das so kommen wird?
Aichern: Mir war beim Lesen und Anhören der Apostelgeschichte klar, dass manche kirchliche Entwicklungen nicht auf der Basis der Heiligen Schrift stehen, sondern zeitbedingte gesellschaftliche, soziale und politische Ursachen haben. Die „Verheutigung der Kirche“, wie das „Aggiornamento“ von Papst Johannes XXIII. übersetzt wird, verlangt viel Geduld, Zuversicht und Mut. Zu meiner Zeit als Diözesanbischof hat es sich bereits abgezeichnet, dass weniger Priester nachkommen und dass mehr Laienkräfte im Einsatz sein werden. Deshalb haben wir schon damals, vor rund 20 Jahren, mit den ehrenamtlichen Seelsorgeteams angefangen, die sich als sehr positiv erweisen.
Sie haben den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Nun wird wieder in Europa gekämpft. Hätten Sie das erwartet?
Aichern: Nein. Noch weniger habe ich vor allem erwartet, dass man die Friedensbemühungen einfach dem Militär überlässt. So bewundernswert die starke Hilfe für die ukrainischen Kriegsopfer ist, so bedrückend ist das weitgehende Fehlen von wirksamen Friedensvermittlern.
Ihre Aufmerksamkeit galt stets den arbeitenden Menschen. Die Arbeitswelt wandelt sich, welche aktuellen Probleme sehen Sie?
Aichern: Obwohl es auch bei uns Probleme gibt, bedrücken mich am meisten die weltweiten Fragen. Das Klimaproblem, die weiter auseinandergehende Schere zwischen Armen und Reichen und die hohe Arbeitslosigkeit in Entwicklungsländern sind ein weltweiter Skandal und verlangen intensiven Einsatz, auch bei uns. Das Verteilungssystem muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und Lebensqualität für alle entsprechen. Es geht um eine neue Gesinnung, die nicht den finanziellen Gewinn und den Konsum an die erste Stelle setzt.
Viele Menschen in Österreich sind durch die wirtschaftliche Entwicklung in Bedrängnis. Wie kann die Gesellschaft gerecht darauf reagieren?
Aichern: Hoffnungsvoll ist derzeit die große Bereitschaft, durch persönliches Sparen und Verringerung des Verbrauchs zu einer Verminderung der Gas- und Energiekrise beizutragen. Wir brauchen auch in anderen Lebensbereichen eine solche Haltung und Praxis. Es geht nicht ohne Einschränkungen, es geht nicht ohne Teilen und es geht nicht ohne Solidarität, auch in den Asylfragen
Herr Bischof, wenn Sie an Ihre Kindheit und Jugend in Wien und teilweise auch in Kärnten zurückdenken: Welche Bilder kommen da? Was war prägend für Sie, was hat Sie damals begeistert?
Aichern: Prägend war für mich als Jugendlicher der Orden der Kalasantiner in Wien, die vor allem auf die Jugend- und die Arbeiterseelsorge ausgerichtet waren, aber auch die Familie in Wien und die Verwandten in Kärnten, denen ich ebenfalls viel verdanke.
Wichtig waren für mich als Jugendlicher die Kontakte in der Katholischen Arbeiterjugend in Wien und die Begegnung mit vielen Persönlichkeiten aus Kirche und Politik: zum Beispiel Kardinal Theodor Innitzer, der sich sehr um die Jugend angenommen hat, Bischof Paulus Rusch von Innsbruck, der Jugendbischof nach dem Krieg, Nationalratspräsident Leopold Kunschak, der in unserer Pfarre aus- und eingegangen ist, Pater Josef Zeininger, der Gründer der Arbeiterjugend in Wien, und die Jugendseelsorger P. Hildebrand Urdl von den Kapuzinern und Pater Heinrich Wagner von den Kalasantinern. Das waren die prägenden Geistlichen in der Kinder- und Jugendseelsorge, damals nach dem Krieg.
Welche Haltungen und Werte haben Ihnen Ihre Eltern mit auf den Lebensweg gegeben? Wofür sind Sie ihnen bis heute dankbar?
Aichern: Im Fleischhauerei-Betrieb der Eltern waren immer fünf, sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Da haben wir Kinder schon von klein auf die Bedeutung der Arbeit kennengelernt, aber auch die Bedeutung der Solidarität, des Zusammenhaltens im Betrieb und in der Familie und die Bedeutung von gegenseitiger Rücksichtnahme und Zusammenarbeit.
Das war damals alles notwendig – besonders nach den Bombenangriffen, bei denen unser Geschäft und die Wohnung, die Kirchen und andere Häuser in der Gegend zerstört wurden. Die Leute haben zusammengeholfen beim Wiederaufbau.
Der Glaube und das kirchliche Leben waren für meine Eltern und Verwandten – ob in Wien oder in Kärnten – immer eine Selbstverständlichkeit.
Vor über 40 Jahren wurden Sie im Linzer Mariendom zum Bischof geweiht. Was sind Ihre Erinnerungen an dieses Fest? Gab es damals einen Zuspruch, der Sie besonders gestärkt hat für Ihr Amt?
Aichern: Trotz mancher Bedenken im Rahmen der Bischofsernennung – weil ich mir nicht vorstellen habe können, wohin zu gehen, wo man fast niemanden kennt –, wurde ich hier von den bischöflichen Mitbrüdern Franz Zauner und Alois Wagner und besonders von den damaligen Mitbrüdern in der Österreichischen Bischofskonferenz mit Kardinal Franz König an der Spitze, aber auch von den Seelsorgern in der hiesigen Diözese nach einem ersten Aufschrei – „Was, a Fremder?!“ – herzlich aufgenommen.
Vor allem von den Gläubigen wurde ich immer sehr freundlich aufgenommen – ob bei der Bischofsweihe oder später bei den vielen Pfarrbesuchen, die es gegeben hat. Und gestärkt hat mich wirklich die große Bereitschaft zur Zusammenarbeit und die positive Atmosphäre in der Diözese Linz und im ganzen Land Oberösterreich.
Das habe ich von den Politikern so erfahren, von den Sozialpartnern, an der Universität, in den Schulen bei den Lehrkräften, in den Betrieben. Das Gespräch und die Atmosphäre waren im Wesentlichen überall positiv. Natürlich wurden auch harte Sachen angesprochen, aber das gehört zum Dialog dazu, da darf man nicht angerührt sein.
Sie sind damals fremd nach Oberösterreich gekommen und haben lang mit der Entscheidung gerungen, Bischof von Linz zu werden. Wenn Sie heute auf Oberösterreich schauen: Was macht für Sie die Diözese, das Bundesland aus?
Aichern: Einige Personen habe ich vor meiner Übersiedlung nach Linz schon gekannt: Prälat Josef Wiener zum Beispiel, der manchmal bei Pastoraltagungen in der Steiermark war, die durch Bischof Johann Weber auch in St. Lambrecht stattgefunden haben.
Prälat Josef Mayr, späterer Caritas-Direktor, damals Arbeiter- und Jugendseelsorger, der bei einem Priesterkreis von Arbeiterseelsorgern dabei war, auch aus der Steiermark, die mitunter in St. Lambrecht getagt haben.
Den Finanzkammerdirektor habe ich gekannt von den Finanzsitzungen der österreichischen Kirche in Wien, wo ich die Orden vertreten habe. Und natürlich die Äbte – die Benediktineräbte von Kremsmünster, Lambach und die anderen. Ich kannte nur wenige Persönlichkeiten, aber das hat sich sehr rasch geändert. Und ich schätzte die, die ich schon gekannt habe, aber auch die, die ich kennenlernte, wegen ihres Einsatzes und ihrer Menschlichkeit.
Ich habe mich immer gefreut über die Offenheit, mit der man mit Leuten reden konnte – ob man sie näher gekannt hat oder nicht –, über die gerade Art und die Dialogbereitschaft und die Freundlichkeit von vielen Oberösterreicherinnen und Oberösterreichern.
Es ist einfach unglaublich gewesen, auch bei den Pfarrvisitationen. Und in der Diözese Linz habe ich im Wesentlichen immer wieder einen aufgeschlossenen Glauben und einen großen sozialen und kirchlichen Einsatz erlebt. So habe ich das erlebt und erlebe es bis heute.
Sie haben den Menschen oft mitgegeben: „Lasst euch die Freude am Menschsein und am Christsein nie durch etwas nehmen.“ Sie strahlen auch selbst diese Freude aus. Wie haben Sie sich die Freude am Menschsein und am Christsein erhalten? Wo haben Sie Kraft und Freude getankt?
Aichern: "Lasst euch die Freude am Menschsein und am Christsein nicht nehmen“ war ein Ausspruch von Papst Johannes Paul II., den er bei einem Pastoralbesuch in Salzburg gemacht hat. Und ich habe ihn dann auch öfter bei Predigten gesagt.
Da haben manche gemeint, warum ich als Bischof nicht das Christsein an die Spitze setze. Aber als Erstes ist man ja ein Mensch – dann kann man alles andere sein und werden. Deswegen ist es wichtig, Freude am Leben zu haben, auch Gelassenheit zu haben – vor lauter Aufregung kommt man nicht immer über alle Sachen gut drüber, aber mit Gelassenheit.
Zuerst muss man wirklich Mensch sein, und dann kann man alles Weitere sein. Und das kann man ja immer besser und immer mehr werden.
Das Christsein äußert sich natürlich sehr vielfältig. Es gibt das gemeinschaftliche Gebet, es gibt den gemeinschaftlichen Gottesdienst, es gibt die gemeinschaftlichen sozialen Taten in Gruppen, Bewegungen, mit Sozialpartnern, Parteien usw.
Und die Leute freuen sich so verschieden: der eine an den schönen Kirchen, der andere an der Gemeinschaft, die es gibt, der Dritte nimmt etwas von den christlichen Diskussionen mit für sein Lebenswerk. Jeder findet dann etwas Positives im Menschsein und im Christsein. Aber man muss im Dialog bleiben, davon bin ich überzeugt.
Ich persönlich habe viel Freude erlebt bei den Pfarrvisitationen, beim Besuch von Jugend- und Jungschargruppen, in den einzelnen Schulen – ich war ja in allen Schulen beim ersten Durchgang durch die Diözese. Durch die Freude und Offenheit von so manchen kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und gerade auch in Jugendgruppen hat man viel Frohes erlebt. Auch mit Familien, auch in manchen Betrieben.
Manchmal sind Klagen gekommen, manchmal auch Freudentränen, alles Mögliche hat’s gegeben.
Sie sind Benediktiner. Was ist für Sie das Besondere an der benediktinischen Spiritualität?
Aichern: Ich bin Benediktiner vom Stift St. Lambrecht / Mariazell – früher war das in Kärnten, heute ist es in der Steiermark. In diesem Orden gibt es die Spiritualität des hl. Benedikt, des Gründers von Montecassino und Subiaco. Und ich bin überzeugt, dass die Geistigkeit, die aus der Ordensregel des hl. Benedikt spricht, gerade heute große Aktualität hat angesichts unserer Friedlosigkeit, unserer Rastlosigkeit, unserer Maßlosigkeit und Übersättigung, unserer inneren Heimatlosigkeit.
Denn die Geistigkeit des hl. Benedikt verbindet aus dem Geist des Evangeliums heraus die diesseitige und die jenseitige Welt, Gott und die Menschen, Aktion und Kontemplation, Weltliches und Geistliches, Alltägliches und Besonderes. „Ora et labora“, „Bete und arbeite“: Der Leitspruch Benedikts, der nirgends geschrieben steht, aber aus dem Geist der Regel kommt, stellt das gesamte menschliche Wirken, unser Arbeiten und die schöpferische Freizeit, das Kulturelle und die Kreativität hinein in die Dimension Gottes, in das Leben vor Gott.
Von hier kann man Kraft und Orientierung bekommen, aber auch Freude und Vertrauen schöpfen, wenn wir diesen Weg gehen, den Jesus vorangegangen ist und auf dem er uns begleitet bis zum Ende der jeweiligen Zeit von jedem Einzelnen. Die benediktinische Regel ist eine Besonderheit, man muss sie nur kennen.
Sie waren Referatsbischof für die Orden. Die Beziehung zur eigenen Gemeinschaft und zu den oö. Ordensgemeinschaften war Ihnen immer wichtig. Was ist aus Ihrer Sicht die Aufgabe der Orden in Kirche und Gesellschaft von heute?
Aichern: In Oberösterreich gibt es sehr viele Ordensgemeinschaften, auch heute noch, und sie haben eine große Bedeutung. Ich bin überzeugt, sie sind wesentliche Mitträger der Seelsorge und der sozialen und karitativen Aufgaben.
Jedes Kloster hat seine besonderen Aufgaben. Gerade in der heutigen Zeit gehen gerade auch von den Klöstern wichtige gesellschaftliche und humane Impulse aus, in der letzten Zeit zum Beispiel von Wilhering [von 23. – 25. September 2022 fand dort die „Expedition für digitalen Humanismus“ statt, Anm.].
Eine besondere Rolle spielt dabei der Dialog mit der Welt und den Menschen, vor allem auch außerhalb der Religionsgemeinschaften. Diese alten Klöster aus Urzeiten, die haben ja schon existiert, als es so manche Trennung der christlichen Gemeinschaft in Orthodoxe, Evangelische usw. noch gar nicht gegeben hat. Deswegen, glaube ich, sind auch die Klöster berufen, vor allem auch Kontakt zu anderen Religionsgemeinschaften zu halten. Ich denke, wie man echte christliche Werte vermittelt, könnte auch von Klöstern ausgehen – und tut es auch.
Sie haben immer mit viel Weitblick agiert, auch geografisch gesehen. Bereits als Abt hatten Sie Kontakte nach Kroatien und Slowenien. Es gab auch Verbindungen nach Bosnien, zur italienischen Bischofskonferenz, nach Tschechien, Weißrussland und Rumänien und nach Brüssel. Warum waren und sind Ihnen diese Beziehungen bzw. die Unterstützung der Partnerdiözesen so wichtig?
Aichern: Ich wurde von vielen Seiten darum gebeten, zu unterstützen – zuerst als Abt und dann als Sozialreferent in der Österreichischen Bischofskonferenz. Ich glaube, zu den Kennzeichen und Möglichkeiten unserer Zeit gehören das weltweite Zusammenwachsen und das gemeinsame Lösen der immer größer werdenden Probleme, von der Umwelterhaltung bis zu einer gerechten Wirtschaftsstruktur. Voraussetzung für alles ist natürlich der Dialog – das Einander-Kennen und das Miteinander-Reden.
Und die gegenseitige Anerkennung der menschlichen Würde aller und die Bereitschaft zu einer solidarischen Zusammenarbeit. Die Kirchen müssen dabei Motoren und Vorbilder sein. Gerade Erzbischof Alois Wagner von der Diözese Linz, der dann als Kurienbischof in Rom für die Entwicklungshilfe der Weltkirche zuständig war, ist so ein Vorbild gewesen unter den österreichischen Bischöfen, weil er den Entwicklungshilfedienst hier aufgebaut hat und selbst viel in die afrikanischen und in andere Länder gereist ist.
Es ist so wichtig, alle Arten von Grenzen zu überschreiten, einander besser kennenzulernen und auch gemeinsame Aufgaben anzupacken, davon bin ich wirklich überzeugt. Deswegen sind diese Fahrten zustande gekommen. Der kürzlich verstorbene Rembert Weakland, damals Abtprimas in Rom, hat mich – damals war ich Abt – gebeten, mich um die neun Klöster der jugoslawischen Benediktiner und Benediktinerinnen anzunehmen, denen das Tito-Regime alles weggenommen hatte. Das habe ich gemacht; ich war in Kontakt mit den Denkmalämtern, den Bürgermeistern, den zugehörigen Bischöfen usw. Ich war meistens zweimal im Jahr unten.
Allein habe ich mich nie fahren getraut – damals in der kommunistischen Zeit, bei den schlechten Straßen seinerzeit. Autobahnen gab es noch keine, nur die Küstenstraßen. Es ist immer ein anderer Pater aus St. Lambrecht mitgefahren, damit wir uns beim Fahren abwechseln konnten.
In meiner Zeit als Bischof, als Sozialreferent sind dann andere Bereiche dazugekommen, vor allem Brüssel. Wichtig war in Bosnien-Herzegowina, in Rumänien oder in Tschechien nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der Aufbau der Caritas. Auch in Belarus sind wir oft gewesen! Der Osthilfefonds der Diözese Linz hat ja gerade sein 25-jähriges Bestehen gefeiert. Das Karitative für die Menschen vor Ort, das hinkt nach bis heute. Es ist nötig, dass wir füreinander sorgen.
Sie haben im Orden schon jung Leitungspositionen übernommen und als Bischof 23 Jahre lang die Diözese geleitet. Was braucht es für Sie, um gut leiten zu können? Welchen Führungsstil haben Sie gepflegt? Was war Ihnen im Umgang mit Mitarbeiter/innen wichtig?
Aichern: Diözesanbischof war ich 23 2/3 Jahre. Und in der Bischofskonferenz war ich genau 24 Jahre, weil nach meinem Rücktritt der Kardinal gesagt hat, ich soll noch bis zum Jahresende weitermachen.
Die Benediktinerregel bietet gute Hinweise für die Zusammenarbeit. Da heißt es zum Beispiel: „Der Abt soll wissen, dass er mehr zum Helfen da ist als zum Befehlen.“ Oder: „Der Abt zeige mehr durch sein Beispiel als durch Worte, was gut und heilig ist.“ Ich denke, es gehört zu den Führungsaufgaben, dass man die Würde und Persönlichkeit des einzelnen Menschen beachtet, der Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterin ist.
Ich halte es für die Aufgabe von uns Christinnen und Christen und besonders von Vorgesetzten wie zum Beispiel den Bischöfen, sich für die Menschen und ihre Anliegen auch tatsächlich einzusetzen. Dazu gehört eine menschenwürdige Arbeitszeit.
Ermutigung und Bestärkung gibt mir dabei die große Zahl von Frauen, Männern und Jugendlichen, die sich auch in der Kirche, in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt für die Menschen und ihre Anliegen engagieren. Es ist nicht so, dass nur ein Vorgesetzter das machen soll, sondern jeder und jede soll sich nach den eigenen Möglichkeiten für andere engagieren.
Wenn man so durch die Diözese gekommen ist, auch durch die Pfarrgemeinden und die gesellschaftlichen Institutionen, hat man oft gestaunt, wie einzelne Frauen und Männer sich in politischen Parteien, in Gewerkschaften, kulturellen Vereinigungen, in wissenschaftlichen Vereinigungen für andere einsetzen.
Benedikt gibt Anregungen, wie der Abt sein soll. Das ist aber auch ein Konzept für alle, die Mitmenschen vorstehen und Verantwortung für sie tragen.
Kinder und Jugendliche waren Ihnen immer besonders wichtig, bis heute spenden Sie in oberösterreichischen Pfarren das Sakrament der Firmung. Was wünschen Sie den jungen Menschen von heute?
Aichern: Im nachsynodalen apostolischen Schreiben „Christifideles laici“ über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt aus dem Jahr 1988 schreibt Papst Johannes Paul II.: „Die Jugendlichen sind eine außerordentliche Kraft und eine große Herausforderung für die Zukunft der Kirche. Die Kirche hat der Jugend viel zu sagen und die Jugend hat auch der Kirche viel zu sagen. Dieser gegenseitige Dialog muss offenherzig, klar und mutig sein.“
Ich möchte dazu sagen: Gerade in einer für die Kirche nicht leichten Zeit braucht es mutige junge Christinnen und Christen, die sich von Problemen nicht abschrecken lassen, die den Mut haben, anzupacken, aufzutreten, sich einzusetzen. Und die Besuche und die Gespräche mit der Katholischen Jugend und der Katholischen Jungschar, in den Schulen, in den Gruppen der Pfarren und darüber hinaus, das ist stets in meinem Programm gewesen.
Es war gut, dass ich beim ersten Durchgang durch die Diözese wirklich den Religionsunterricht in allen Schulen besucht habe – auch in den höheren Schulen, auch an den Unis, in den Abendkursen. Da hat es schon heftige Diskussionen gegeben, aber das war wichtig und ist auch geschätzt worden.
Der synodale Weg in Deutschland macht mutige Vorschläge zur Kirchenreform. Sie haben sich einst für die Diakonenweihe der Frau eingesetzt. Wie stehen die Chancen dafür heute?
Aichern: Ich glaube trotz mancher Rückschläge daran, dass die Diakonatsweihe für Frauen nicht aufzuhalten ist, weil es sie schon einmal gab. Das Gleiche gilt für mich für die Priesterweihe von verheirateten Männern – und vielleicht sogar von Frauen. Ich meine, die Diakonenweihe für Frauen liegt schon sehr nahe. Und ich bin überzeugt, dass auch verheiratete Männer Priester werden können. Alles braucht seine Zeit. Die Amazonassynode hat da eine Richtung vorgezeichnet und ich würde mir wünschen, dass noch unter Papst Franziskus Folgerungen umgesetzt werden.
Sie gehören zu einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt hat. Heute wird wieder in Europa gekämpft. Hätten Sie das erwartet?
Aichern: Nein. Noch weniger habe ich vor allem erwartet, dass man die Friedensbemühungen einfach dem Militär überlässt. So bewundernswert die starke Hilfe für die ukrainischen Kriegsopfer ist, so bedrückend ist das weitgehende Fehlen von wirksamen Friedensvermiilitär.
Ihre Aufmerksamkeit galt stets den arbeitenden Menschen – von der sozialen Absicherung bis zum freien Sonntag. Die Arbeitswelt wandelt sich, welche aktuellen Probleme sehen Sie?
Aichern: Obwohl es auch bei uns Probleme gibt, bedrücken mich am meisten die weltweiten Fragen. Das Klimaproblem, die weiter auseinandergehende Schere zwischen Armen und Reichen und die hohe Arbeitslosigkeit in Entwicklungsländern sind ein weltweiter Skandal und verlangen intensiven Einsatz, auch bei uns. Das Verteilungssystem muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und Lebensqualität für alle entsprechen. Es geht um eine neue Gesinnung, die nicht den finanziellen Gewinn und den Konsum an die erste Stelle setzt.
Viele Menschen in Österreich sind durch die wirtschaftliche Entwicklung derzeit in Bedrängnis. Wie kann die Gesellschaft gerecht darauf reagieren?
Aichern: Hoffnungsvoll ist derzeit die große Bereitschaft, durch persönliches Sparen und Verringerung des Verbrauchs zu einer Verminderung der Gas- und Energiekrise beizutragen. Wir brauchen auch in anderen Lebensbereichen eine solche Haltung und Praxis. Es geht nicht ohne Einschränkungen, es geht nicht ohne Teilen und es geht nicht ohne Solidarität, auch in den Asylfragen.
Sie haben als Sozialbischof Initiativen auf den Weg gebracht, die über Oberösterreich hinaus Strahlkraft entwickelt haben. Wo braucht es heute aus Ihrer Sicht Impulse der Kirche in sozialen Fragen?
Aichern: Es geht doch immer wieder um den Menschen und darum, dass der Mensch entsprechend leben kann. Es geht um das Soziale und um das Mitmenschliche. In einem Land wie Österreich, dem es relativ gut geht, gibt es trotzdem so manche drückende Nöte. Und die Caritas und die karitativen Organisationen – ob jene der evangelischen Kirche, die Volkshilfe oder andere – und ihre Hilfen sind immer wieder notwendig, auch in unserem Land.
In vielen Gesprächen geht es auch um die Fragen nach dem Sinn des Lebens – so manche Obdachlose kommen auf solche Fragen zu reden. Oft geht es auch um die Bedeutung des Glaubens. Mit Leuten, die in Bedrängnis sind, kommt man zu allen Fragen ins Reden. Viele in den Pfarren Aktive drückt die Situation der Kirche mit den bei uns immer weniger werdenden Priestern.
Angeschnitten wird auch immer wieder die Sorge um die Jugend. Und besonders um die Frauenfrage in der Kirche – die kommt öfters. Die Teilhabe der Frauen an der Seelsorge und an der Verwaltung ist ja unbestritten.
Und man sieht, wie der Papst jetzt doch auch bei der Kurie in Rom nachzieht. Aber es geht auch immer wieder um die Teilhabe am Amt, wie zum Beispiel dem Diakonat. Ein Grundanliegen des Sozialhirtenbriefs und des Ökumenischen Sozialwortes war die humane und geistige Grundlage der Gemeinschaft, die gegenseitige Verantwortung, aus der sich die Notwendigkeit des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit ergibt.
Das Gemeinsame, das Gemeinwohl muss immer vor den Gruppen- und den Parteiinteressen stehen. Das ist, denke ich, das Wichtigste, und dafür wird auch die Kirche immer sorgen müssen.
Ich bin überzeugt: Grundlagen werden immer wieder geliefert. Man wird den Sozialhirtenbrief auch wieder ergänzen müssen – durch Fragen, die heute in der Luft liegen oder durch Ereignisse. Man wird ihn ökumenisch ergänzen müssen, das liegt in der heutigen Zeit.
Das Soziale und das Mitmenschliche müssen auch weiterhin im Gedankengut der Kirche präsent sein – nicht nur bei den Leitenden, sondern bei allen Leuten, weil es immer wieder um das Leben der Menschen geht.
Sie haben Menschen beteiligt und ermutigt, sich in die kirchliche Arbeit einzubringen, besonders Laien und auch Frauen. Warum war Ihnen das ein Herzensanliegen?
Bischof em. Aichern: Einer der Gründe liegt darin, dass da wirklich das größte Defizit auch in der Kirche besteht. Denn das Evangelium zeigt ja klar die gemeinsamen Aufgaben und Rechte auf. Die Befähigung und der Auftrag aller Christinnen und Christen durch Taufe und Firmung, die vom Konzil so intensiv betont wurden, ist noch immer zu wenig im Bewusstsein, greift aber immer besser. Und der jetzige Papst, so denke ich, tut das Seinige, auch wenn es für manche immer noch zu wenig ist. Vielleicht lebt er noch ein paar Jahre.
Wenn Sie auf fast 90 Lebensjahre zurückblicken: Wofür sind Sie besonders dankbar? Vieles ist gelungen – worüber freuen Sie sich besonders?
Bischof em. Aichern: Dankbar bin ich für meine Eltern, aber auch für meine Schwester mit ihrer Familie, und für die übrigen Verwandten, mit denen ich nach wie vor in einem guten Kontakt bin. Ich bin dankbar für die Seelsorgerinnen und Seelsorger, die ich erlebt habe – nicht nur Priester.
Ich bin zur Erstkommunion schon von einem Laien vorbereitet worden und zur Firmung auch wieder. Bei der Erstkommunion während des Kriegs war der Kaplan eingesperrt und der Pfarrer hat nicht alles machen können. Da war eine Dame, die eine Pfarrhelferin war, wie das damals geheißen hat, die hat uns unterrichtet. Und beim Firmunterricht war es ein Laie aus dem Kalasantiner-Orden, der das gemacht hat. Ich bin also schon von Laien vorbereitet worden – interessant in der damaligen Zeit.
Ich glaube, man muss auch dankbar sein für die Seelsorgerinnen und Seelsorger, die man im Lauf der Zeit kennengelernt hat, in der Steiermark schon und dann in der Diözese Linz und darüber hinaus in ganz Österreich. Dankbar bin ich auch für die geistlichen Mitbrüder und die geistlichen Mitschwestern – ich war ja auch der Ordensreferent der Bischofskonferenz über 20 Jahre – und für die vielen freundlichen und hilfreichen Mitmenschen, denen ich begegnet bin: auch in Brüssel, bei den Sozialpartnern, in den politischen Parteien, in den Wirtschaftskammern, in der Gewerkschaft usw. All das habe ich in bester Erinnerung.
Mich selber hat wirklich der Glaube getragen und die Gemeinschaft der Mitchristen. Und was stärkt einen? Wenn man regelmäßig im Gebet ist und das Wort Gottes hört, auch wenn es andere verkünden, oder es liest, das Breviergebet und die Feier des Gottesdienstes, aber auch die vielen Gespräche und Begegnungen.
Was gehört zu den erfreulichen Ereignissen, die ich erlebt habe als Bischof? Zum Beispiel das 200-jährige Diözesanjubiläum von 1983 bis 1985 mit den Veranstaltungen in allen Dekanaten, bei denen ich dabei war.
Zu den erfreulichen Ereignissen gehören auch die Besuche von Papst Johannes Paul II. in Enns-Lorch, an der Wiege des Christentums unserer Heimat, und im ehemaligen KZ in Mauthausen.
Positiv habe ich die Diözesanversammlung empfunden über die Glaubensweitergabe und die Mitverantwortung der Laien – damals war die Mitarbeit der Laien schon ein zentraler Inhalt. Prälat Josef Wiener hat damals gesagt: „Das brauchen wir jetzt noch nicht hundertprozentig, aber in 30 Jahren sicher.“ Und es ist so gekommen.
Wichtig waren auch der diözesane Zukunftsprozess „Seelsorge der Zukunft“ von 1991 bis 1996, die Gründung der Frauenkommission 1997 und ihre Teilnahme am Konsistorium.
Ich war der Beauftragte für den Sozialhirtenbrief 1990 zu „100 Jahre erste päpstliche Sozialenzyklika“ und für das Ökumenische Sozialwort der christlichen Kirchen Österreichs. Die Zusammenarbeit mit den Evangelischen und den Orthodoxen war wirklich sehr gut.
Dankbar bin ich für die Allianz für den freien Sonntag, die von Oberösterreich und von der Katholischen Arbeitnehmer:innen Bewegung ausgegangen ist. Dann war da meine durch die Bischofskonferenz abgestimmte Teilnahme und Mitarbeit an zwei Bischofssynoden in Rom: 1987 für die Laien und 1994 für die Orden, Säkularinstitute und geistlichen Gemeinschaften.
Und die jährliche Teilnahme an der Vollversammlung der Italienischen Bischofskonferenz seit 1983, jedes Jahr vier Tage im Mai, bis vor zwei Jahren.
Auch bei der Bosnisch-herzegowinischen Bischofskonferenz in Sarajewo war ich seit Mitte der 1990er Jahre jedes Jahr dabei. Heuer wäre ich eingeladen gewesen, konnte aber wegen meiner Bein-Probleme nicht fahren. In Belarus in den drei Diözesen war ich zweimal, nach Budweis bin ich immer selber gefahren, und in Rumänien war ich auch zwei oder drei Mal.
Hatten bzw. haben Sie Zeit für Hobbys? Bei welchen Tätigkeiten können Sie entspannen?
Bischof em. Aichern: Jetzt habe ich Tag und Nacht Zeit dafür (lacht). Durch gesundheitliche Behinderungen muss man natürlich leisertreten, wenn man so alt ist. Ich bin früher in St. Lambrecht, wo ja viele Berge sind, schon auch viel herumgewandert.
Aber dann als Bischof von Linz hat man diese Vorsätze zwar gehabt, ist aber zu wenig herumgewandert. Aber jetzt hat man wieder Zeit fürs Leben.
Wenn man natürlich wehe Beine hat, kann man weniger herumwandern, hat aber mehr Zeit zum Lesen, zum Durchsehen alter Unterlagen, die man abgelegt hat. Nicht die Amtspost, die ist im Archiv, sondern Unterlagen, die in den letzten Jahren zusammengekommen sind. Jeden Tag schaue ich einen Stoß an.
Und man hat mehr Zeit zum Lesen, auch zur Vorbereitung des einen oder anderen Gottesdienstes, und auch für Gespräche. Und wenn Gott es so will, muss man die Fußwunden ertragen und auch die Behandlung dazu.
Sie sind historisch höchst interessiert und haben sich auch immer der Gedenkarbeit verpflichtet (Gedenken von NS-Märtyrern, Mauthausen, Seligsprechungsverfahren, z. B. Marcel Callo und Franz Jägerstätter). Warum braucht es dieses Gedenken, das Lernen aus der Geschichte?
Aichern: Es gibt ein Zitat, das in etwa lautet: „Die Erinnerung an das Vergangene ist wichtig für das Verstehen der Gegenwart und für die Gestaltung der Zukunft.“ Das ist ein gutes Wort. Ich glaube, das Gedenken an Marcel Callo, Franz Jägerstätter oder an andere Märtyrer kann dazu beitragen, dass solche Unmenschlichkeiten sich nicht mehr ereignen und dass heute Ansätze von Menschenhass und Menschenvernichtung schon in den Anfängen verhindert werden. Dafür brauchen wir das Wissen um diese Wurzeln, um manches für heute aufarbeiten zu können. Das Aufarbeiten der Vergangenheit ist wichtig für die Gegenwart.
Haben Sie zu Ihrem 90. Geburtstag einen Wunsch für sich, für die Kirche, für die Menschen in Oberösterreich und darüber hinaus?
Aichern: An und für sich habe ich für mich persönlich keine besonderen Wünsche, wohl aber für unsere Zeit und für die Menschen. Ein Wunsch wäre, dass die russische Kriegsführung in der Ukraine endlich einmal aufhört.
Ein Wunsch wäre, dass die Klimakrise und so manch andere Krise wieder zu einem Ende kommen und dass es in der Welt mehr gegenseitiges Verstehen und solidarisches Handeln gibt. Es ist ja viel vorhanden und es wird viel erreicht, aber bei Weitem noch nicht alles.
Und ich möchte wirklich auch der Kirche etwas wünschen: die Diakonenweihe für die Frauen, eine Änderung der Zulassungsbedingungen zu den Weihen, das wäre gut. Außerdem eine erfolgreiche Reform der Strukturen – die hat es ja öfter gegeben in der Geschichte – und eine wirklich gute Hinwendung zu den Nöten der Menschen. Das wäre, glaube ich, das Wichtigste, was aus dem Evangelium hervorgeht. Es braucht wirksame Hilfe.
Mich persönlich ermutigt es, dass ich manche positiven Trends erlebe, vor allem auch bei jüngeren Menschen, die sich für Gerechtigkeit, für Friede und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen und immer neue, zeitgemäße Wege suchen – nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche.
Wort zum Sonntag
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