Wort zum Sonntag
Trotz der Krise des Christentums dürfen sich gläubige Menschen nicht aus der gesellschaftlichen Verantwortung zurückziehen, ist er überzeugt. Josef Wallner führte mit ihm bei seinem Besuch in Oberösterreich ein Gespräch.
Ihr jüngstes Buch, „Der Nachmittag des Christentums“, verstehen Sie als Zeitansage für Kirche und Gesellschaft. Wie viel hat es geschlagen?
Tomáš Halík: Die Globalisierung war der wichtigste Prozess der modernen Kultur. Die ist jetzt in der Krise. Denn wir sehen die negativen Seiten: die Globalisierung der Pandemie, der Gewalt, des Populismus und den immer tieferen Graben zwischen den reichen und armen Ländern. Dieser Schattenprozess der Globalisierung weckt nun den Populismus, den neuen Nationalismus, religiösen Fundamentalismus, politischen Extremismus.
Das sind die großen globalen Herausforderungen und Gefahren. Aber wir müssen jetzt den Prozess der Globalisierung tief erneuern. Wir brauchen eine internationale Zusammenarbeit. Wir brauchen einen neuen Ökumenismus.
Was heißt das für die Kirche?
Halík: Die Kirche sollte eine sehr wichtige Rolle in diesem Prozess spielen. Ich denke an Teilhard de Chardin, der sinngemäß gesagt hat: Die höchste Entwicklungsstufe von Welt und Mensch wird nicht durch einen Automatismus des Fortschritts der Technologie entstehen, sondern das braucht eine geistige Energie.
Das ist die christliche Liebe. Sie ist die einzige Kraft, die vereinigt, ohne zu zerstören. Diesen Weg der christlichen Liebe sollte die Kirche gehen, die Grenzen der Vorurteile abschaffen und eine Kultur der Nähe schaffen.
Ist die Kirche für diese Aufgabe gerüstet?
Halík: Die Aufgabe der Kirche ist die Evangelisation. Dazu ist es notwendig, dass sich die Kirche mit der jeweiligen Kultur verbindet, die Inkulturation lebt. Aber in Europa ist kirchlicherseits seit der Aufklärung ein Prozess der Exkulturation im Gange, sodass die Kirche auf weiten Strecken die Beziehung zu den gesellschaftlichen Herausforderungen verloren hat.
Die katholische Kirche hat sich aus Angst vor der Französischen Revolution und den anderen Revolutionen verschlossen und ist zum Katholizismus geworden. Es ist notwendig, aus dem Katholizismus wieder zur Katholizität überzugehen. Diese Kontra-Kultur gegen die Moderne war ein großer Fehler. Es gab verschiedene Versuche, aus dieser Ghetto-Mentalität auszubrechen. Das II. Vatikanum war ein solcher Versuch.
Ist dieser Versuch gelungen?
Halík: Ich meine, das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) kam ein bisschen zu spät. Es führte einen Dialog mit der Moderne zur einer Zeit, als die Moderne schon am Ende war.
Bereits 1969 begann eine neue Ära mit der Erfindung von Mikroprozessoren. Das war der Anfang des Internetzeitalters, das eine neue Zivilisation und Kultur, die postmoderne Kultur, gebracht hat. Darauf hat uns das Zweite Vatikanische Konzil nicht wirklich vorbereitet. Wir müssen uns nun mit einer radikal pluralistischen, differenzierten und auch gespaltenen Gesellschaft auseinandersetzen.
Wie könnte das vor sich gehen?
Halík: Ich kenne keinen anderen Weg als die Spiritualität, aus der Tiefe zu schöpfen, auf das Evangelium zu hören. Unter Spiritualität verstehe ich nicht etwas nur Emotionales oder gar Esoterisches, sondern Spiritualität ist geistliche Energie aus dem Evangelium. Die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft und theologische Vertiefung und spirituelle Erneuerung müssen aber zusammengehen.
Wir brauchen ein neues Begreifen von Gott als dynamischen Gott, der in der Geschichte wirkt, und eine neue Sicht des Menschen. Das ist der neue Wein, von dem Jesus spricht – für den man natürlich auch neue Schläuche braucht. Ich bin grundsätzlich aber mehr am neuen Wein interessiert. Der neue Wein ist Inspiration, neue Schläuche zu finden. Anders herum, glaube ich, funktioniert es nicht: Neue Schläuche schaffen keinen neuen Wein.
Aber ohne neue Schläuche geht es auch nicht.
Halík: Natürlich. Ich denke hier an den synodalen Prozess, den Papst Franziskus für die ganze Kirche angestoßen hat. Vor Kurzem hat die Versammlung der katholischen Kirche aller europäischen Länder in Prag stattgefunden.
Ich bin besorgt, dass die Köpfe des synodalen Prozesses zuviel auf die Frage der Erneuerung der Institutionen konzentriert sind. Aber die synodale Reform muss dennoch ein nächster Schritt sein, und zwar in dezentraler Form.
Was heißt das?
Halík: Bei den Begegnungen in Prag wurde mir klar, dass in vielen postkommunistischen Ländern das Zweite Vatikanische Konzil nicht wirklich verstanden wurde. In den kommunistischen Zeiten hatte die Mehrheit von Priestern und Laien keine Möglichkeit, den theologischen Hintergrund des Konzils zu studieren. Die hatten nicht Zugang zum Werk von Rahner, Ratzinger, Chenu und so weiter.
Aber ohne diesen Hintergrund kann man das Konzil nicht wirklich verstehen. Die Umsetzung blieb formal: Wir drehen den Altar um und wir verwenden in der Liturgie die Volkssprache. Das war alles.
Als Reaktion auf diese oberflächliche Modernisierung ist in diesen Ländern ein sehr oberflächlicher Konservativismus entstanden. Das wurde jetzt in Prag ganz klar: dass viele Lokalkirchen in den postkommunistischen Ländern nicht bereit für den nächsten Schritt sind.
... aber die Kirche in den Ländern des Westens schon?
Halík: Die Kirchen im Westen haben so viele Erfahrungen mit der säkularen Welt, dass sie für Veränderungen bereit sind. Auch wenn wir verheiratete Priester und Frauen als Priester haben, kann das die Kirche als solche nicht retten. Wir dürfen darin nicht das ganze Heil sehen.
Übrigens sind Veränderungen eher ein psychologisches als ein theologisches Problem. Zum Beispiel ist die Frauenordination mehr eine psychologische Frage. Sie wird dann theologisiert. Jedenfalls müssen wir die Strukturen so verändern, dass sie ein vertieftes Glaubensleben nicht verhindern.
Wechseln wir das Thema: Sie haben kürzlich mit Ihrer Stellungnahme zum Ukrainekrieg europaweit für Aufmerksamkeit gesorgt.
Halík: Ich bin ganz empört, dass viele Leute im Westen bis heute die Gefahr von Putins Regime unterschätzen. Ich war wirklich von diesen Friedensdemonstrationen empört. (Anmerkung der Redaktion: In Deutschland haben unter anderem Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht zu Friedensinitiativen aufgerufen, auch die evangelische Theologin Margot Käßmann ist eine Unterstützerin.) Putins Regime hat das ganze System von internationaler Sicherheit und Ordnung, das nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, zerstört.
Was will Putin?
Halík: Er will das alte sowjetische Imperium erneuern und er will mit diesem Imperium die größte internationale Macht werden. Das ist eine verrückte Idee, aber sehr gefährlich. Wenn der Westen nicht jetzt den Ukrainern hilft – und das muss eine Waffenhilfe sein –, dann wird dieser Prozess weitergehen und andere Länder, wie zum Beispiel Moldawien und Litauen, erfassen.
Es ist sehr traurig. Aber wir müssen realistisch sein. Hier ist kein Platz für Neutralität. Man kann nicht mit Putin tanzen. Leider sehe ich keine Hoffnung, mit diplomatischen Verhandlungen Frieden zu schaffen. Es liegen schwere Zeiten vor uns.
Theologe, Soziologe, Philosoph
Tomáš Halík, geboren 1948, lebt in Prag. Er wurde 1978 heimlich zum Priester geweiht und war enger Mitarbeiter von Kardinal František Tomášek und Václav Havel. Er lehrte nach der Wende als Professor für Soziologie und Religionsphilosophie an der Karls-Universität in Prag.
Seine Pfarrkirche bei der Karlsbrücke in Prag ist ein Zentrum für Student:innnen und Akademiker:innen. Die Pfarre ist weit über Tschechien hinaus für ihre innovative Pastoral bekannt. In der kommenden Osternacht werden an die 60 Erwachsene nach einem zweijährigen Glaubenkurs getauft.
2014 wurde Halík mit dem Tempelton-Preis ausgezeichnet, der inoffiziell als „Nobelpreis“ der Religionen gilt. Die Bücher des Prager Theologen wurden in zwanzig Sprachen übersetzt. Er war auf Einladung von PRO ORIENTE zu Gast in Oberösterreich.
Ausschnitte aus dem Film "Wende gut, alles gut?"
Christen nach den Revolutionen in Osteuropa (Rumänien, CSSR, DDR).
Mit Codruta Paraschiv, Laszlo Tökes (Rumänien), Tomáš Halík, Jiri Payne, Maria Kaplan, Vaclav Maly (CSSR), Christina und Eberhard Vater (DDR).
Dokumentar - Roadmovie von Johannes Neuhauser.
Sprecher: Axel Corti
Wurde 1990 vom ORF, 3sat, MDR, BR, SRG ausgestrahlt.
DANK an ORF-Religion.
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