Wort zum Sonntag
Liebe Schwestern
und Brüder!
„Siehe, wie gut und wie schön ist es, wenn Brüder und Schwestern miteinander in Eintracht wohnen.“ (Ps 133,1) Dieser Satz aus dem Buch der Psalmen ruft in uns ein Sehnsuchtsbild wach, das uns ein Leben lang anzieht und das wir doch in dieser Welt nie ganz erreichen. Wir suchen nach Frieden und Gemeinschaft – und scheitern daran oft genug. Gerade in den letzten Jahren nehmen in unserer Gesellschaft die Aggressivität der Worte und die Gewalt der Taten an Häufigkeit und Intensität zu. Wir bewegen uns immer ausschließlicher in „Bubbles“, den Blasen der uns Gleichgesinnten. „Hate- speech“, die Hassrede gegenüber Andersdenkenden, lässt sich in den neuen sozialen Medien kaum noch unterbinden. Es schwindet die Bereitschaft, eigene Interessen zugunsten des Gemeinwohls zurückzustellen. Der Zusammenhalt in Kirche und Gesellschaft ist gefährdet.
Was kann uns wieder zusammenführen, wenn tiefgreifende Konflikte uns entzweit haben? Wie können wir zu einem einträglichen Miteinander zurückfinden, wenn seelische oder körperliche Wunden geschlagen wurden? Staatliche Gerichte können zwar in schweren Fällen durch ihre Urteile eine Voraussetzung für Versöhnung schaffen. Aber die Versöhnung selbst können sie nicht erwirken – sie lässt sich nicht verordnen. Dafür braucht es eine vielschichtige Kultur der Versöhnung. Die Kunst in all ihren Formen trägt Wesentliches dazu bei. Auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen haben sich Versöhnungs- und Friedensarbeit zum Ziel gesetzt und leisten Vorbildliches. Schließlich kann auch die Kirche eine Reihe von Einsichten und unterstützenden Maßnahmen dazulegen.
Im Heiligen Jahr 2025, das im Namen Gottes, des Barmherzigen, auf besondere Weise zur Versöhnung einlädt, möchte ich daher einige wichtige Einsichten in Erinnerung rufen, die für Versöhnungsprozesse hilfreich sind, und Sie alle einladen, das Geschenk der Vergebung anzunehmen, das Gott uns anbietet.
Mitunter wird Vergeben mit Nachgeben verwechselt. Doch Vergebung kann nur schenken, wer in der Lage ist, sie auch zu verweigern, wer also aus freien Stücken vergibt. Vergeben heißt auch nicht vergessen. Das mitunter gedankenlos dahergesagte „Schwamm drüber!“ hat nichts mit Vergebung zu tun. Es geht nicht darum, Unrecht vom Tisch zu wischen, zu verdrängen oder zu verharmlosen. Der erste Schritt zur Vergebung ist vielmehr das mutige Hinschauen und klare Benennen geschehenen Unrechts. Vergebung erfordert den Mut zur Wahrheit, ganz nach dem Satz Jesu: „Die Wahrheit wird euch befreien!“ (Joh 8,32) Das mussten wir Bischöfe in der Missbrauchskrise selbst wieder neu und schmerzlich lernen.
Das ungeschminkte Wahrnehmen von Unrecht löst in uns starke Emotionen aus. Sie sind notwendig, wenn wir auch behutsam mit ihnen umgehen müssen. Die Geschädigten und die mit ihnen Fühlenden haben ein Recht darauf, angesichts des geschehenen Unrechts zornig zu sein. Der Zorn motiviert sie, Unrecht anzusprechen und nicht nachzulassen, bis die Täterinnen und Täter zu Buße und Wiedergutmachung bereit sind. Die biblische Rede vom Zorn Gottes hat genau hier ihre Bedeutung: Gott leidet mit den Opfern von Unrecht mit, er schreit und klagt mit ihnen und ist zornig. Er möchte, dass geschehenes Unrecht eingestanden und so weit wie möglich ausgeglichen wird.
Die schuldig Gewordenen ihrerseits brauchen das Gefühl der Reue. In der christlichen Bußpraxis verstehen wir unter Reue ein tiefes Mitfühlen des Schmerzes der Geschädigten. Wenn jemand sagt: „Es tut mir leid“, dann sollten wir das wörtlich nehmen. Dann meint es: „Es schmerzt mich, was ich getan habe, es tut mir selber in der Seele weh. Ich lasse mich von den Verletzungen der Geschädigten betreffen und übernehme dafür die Verantwortung: Das war ich, der dieses tiefe Leid verursacht hat!“ Reue lässt einen vor sich selbst erschrecken und fassungslos fragen: „Wie konnte ich das nur tun?“
Wer Schuld auf sich geladen hat, muss anerkennen, dass er das Unrecht nicht ungeschehen machen kann. Die Tat lässt sich nicht zurücknehmen, die Verletzungen sind passiert. So ist die schuldig gewordene Person abhängig von der freiwilligen Vergebung der Geschädigten. Diese soll sie zum erstmöglichen Zeitpunkt demütig erbitten, wie Jesus in der Bergpredigt mahnt (Mt 5,23–26). Auf Vergebung besteht aber kein Anspruch. Die Geschädigten haben keine Pflicht zur Vergebung. Wer Druck auf sie ausübt und sie zur Vergebung drängt, um schnell zur Tagesordnung zurückkehren zu können, der schädigt die Opfer ein zweites Mal. Vergebung ist eine absolut freie Entscheidung der Geschädigten. Es ist ein Geschenk, wenn sie ehrlichen Herzens vergeben können und dies auch tun.
Dieser Geschenkcharakter der Vergebung wird gerade im Heiligen Jahr 2025 deutlich. Die Heiligen Jahre sind „Gnadenjahre“. In einer Welt, in der wir fast alles „machen“ und „erarbeiten“ können, gibt es dennoch Dinge, die nicht machbar, verdienbar und erwerbbar sind, sondern nur als freies Geschenk gegeben werden können. Im Geschenk der Vergebung erkennen wir Glaubende daher letztlich ein Geschenk Gottes: Er bewegt die Herzen der Täterinnen und Täter zu Umkehr und Reue, er ermächtigt die Geschädigten zu Vergebungsbereitschaft und neuem Zutrauen. Wie nur in wenigen anderen Vollzügen unseres Menschseins können wir im Vergeben seine überfließende Liebe spüren.
Wenn ein Konflikt schwerwiegend ist, brauchen die Konfliktparteien Unterstützung und Hilfe – und das auf vielen Ebenen:
„Siehe, wie gut und wie schön ist es, wenn Brüder und Schwestern miteinander in Eintracht wohnen.“ (Ps 133,1) Möge unser Weg durch das Heilige Jahr 2025 ein Weg der Versöhnung und der Eintracht werden! Dann können wir in den Liedtext des Moraltheologen Thomas Laubach-Weißer einstimmen: „Wo Mensch sich verbünden, den Hass überwinden, und neu beginnen, ganz neu, da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns.“ Dazu segne uns Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
+ Manfred Scheuer, Bischof von Linz
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