Wort zum Sonntag
Herr Politi, Sie beschreiben in Ihrem neuesten Buch „Der Unvollendete“ einen weltanschaulichen Riss, der durch die ganze Gesellschaft geht, aber auch durch die römisch-katholische Kirche. Wurde dieser Riss, der immer größer wird, verstärkt durch das Pontifikat Franziskus, oder wäre er ohnehin weiter gewachsen?
Marco Politi: Die Kirche ist in einer Situation der Zerrissenheit. Das hängt bestimmt auch damit zusammen, dass Franziskus Reformen vorangebracht hat, die vorher lange auf eine Lösung gewartet haben. Er hat neue Fenster geöffnet, Türen geöffnet, Breschen geöffnet. Das hat einen Teil der Kirche verängstigt und verunsichert. Ein erzkonservativer Flügel hat angefangen, systematisch gegen den Papst zu arbeiten. In diesem Sinne kann man sagen, dass die letzten zehn Jahre eine Situation des Untergrund-Bürgerkriegs waren.
Wie zeigt sich das?
Politi: Das hat schon mit den zwei Synoden über die Familie angefangen, als man diskutierte, ob es möglich sei, Wiederverheirateten die Kommunion zu geben. Wir wissen, dass Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt die deutschen Bischöfe mehrmals gestoppt hatten, die nach Rom gekommen waren, um zu sehen, ob man in dieser Frage eine Lösung finden könnte. Nach den beiden Familiensynoden hat Papst Franziskus im postsynodalen Schreiben „Amoris Laetitia“, wenn auch in einer kleinen Fußnote, die Möglichkeit gegeben, dass man den wiederverheirateten Geschiedenen die Kommunion gibt. Und dann ist Franziskus auch in anderen Bereichen weitergegangen, zum Beispiel, indem er gesagt hat, dass auch homosexuell empfindende Menschen zu den Kindern Gottes gehören. Er hat im Vatikan eine Transgenderperson aus Spanien mit deren Partner und mit dem Bischof empfangen. Er hat klargemacht, dass es nicht möglich ist, praktizierende Homosexuelle als Bürger zweiter Klasse in der Kirche zu sehen. Das hat Angriffe gegen den Papst ausgelöst. Und dann haben wir natürlich noch das große Thema der Gleichberechtigung der Frauen in der Kirchengemeinschaft. Papst Franziskus hat zum Beispiel ermöglicht, dass die Diskussion über das Frauendiakonat überhaupt richtig anfängt. Man hat keine Lösung gefunden, denn die erste Kommission war gespalten, und die zweite Kommission hat auch nichts gebracht. Aber auf jeden Fall hat der Papst die Diskussion eröffnet. Und dann hat er, als er gesehen hat, dass es großen Widerstand gab, sozusagen in einer Zickzackpolitik versucht zu zeigen, dass Frauen in der Kirche in leitende Positionen kommen sollen. In diesem Sinne hat er die Ordensfrau Nathalie Becquart zur Untersekretärin des Synodenrates ernannt und zum ersten Mal Frauen in der Kurie in Führungspositionen gebracht. Schwester Brambilla ist Präfektin des Ordens-Dikasteriums. Und seit 1. März leitet Schwester Petrini die Verwaltung des Vatikanstaates. Das sind wichtige Zeichen.
Ein Teil der Kirche ist mit diesen Schritten des Papstes nicht einverstanden. Gleichzeitig sind aber auch reformorientierte Kräfte unzufrieden, weil ihnen alles zu langsam geht. Wie kann das sein?
Politi: Am Kirchengesetz hat sich wenig verändert, deswegen spreche ich von einem „unvollendeten Pontifikat“. Aber die Zeichen, die Franziskus gesetzt hat, sind nicht nur Zeichen, sie sind sehr konkret. Wiederverheiratete Geschiedene bekommen jetzt tatsächlich die Kommunion. Homosexuelle Menschen sind nicht mehr ausgegrenzt. Auch dass Frauen nun in Führungspositionen im Vatikan sind, ist etwas ganz Konkretes. Etwas würde ich noch hinzufügen, weil es praktisch eine Revolution ist: Zum ersten Mal seit 1700 Jahren waren Frauen in einer Synode volle Mitglieder mit Stimmrecht. Das hat Franziskus erreicht. Und wenn es bei der Weltsynode so war, muss es langsam, aber sicher, auch in den Bischofskonferenzen umsetzbar werden. Wir sehen also: Es hat Neuerungen gegeben, es hat Reformen gegeben, aber natürlich ist noch immer viel Arbeit zu tun. Es ist verständlich, dass die konservative Seite aggressiv bleibt, denn sie will nicht, dass die Kirchenstruktur, wie sie nach dem Tridentinischen Konzil aufgebaut wurde, verändert wird. Und es ist verständlich, dass die Reformorientierten unzufrieden sind, weil der ganze Prozess zu lange dauert und auf halber Strecke stehenbleibt. Man muss aber noch etwas hinzufügen: Die Ultrakonservativen haben sich stramm organisiert in diesen Jahren, sie waren sehr laut. Zur Zeit der Familiensynode haben sie zum Beispiel 800.000 Unterschriften gesammelt, darunter mehr als 100 Unterschriften von Bischöfen. Die Reformorientierten sind weniger organisiert, weniger laut, weniger öffentlich engagiert. Vor ein paar Jahren hat man im deutschsprachigen Raum Unterschriften zur Unterstützung von Franziskus gesammelt, damals kam man auf nicht einmal 100.000 Unterschriften. Das fühlt man.
In der katholischen Kirche scheint der aufgeschlossene Katholizismus zu schwinden ...
Politi: Man kann beobachten, dass der erzkonservative Flügel mit den neuen sozialen Medien sehr gut umgehen kann. Weder zur Zeit von Benedikt noch zur Zeit von Johannes Paul II. gab es diese Möglichkeiten. Wenn jemand gegen den Papst in Opposition stand, musste er eine renommierte Persönlichkeit sein wie zum Beispiel der Theologe Hans Küng, der in Zeitungen Interviews gab, oder ein Geschichtsforscher oder Soziologe, auf jeden Fall jemand, der medial Gewicht hatte. In den Online-Netzwerken ist es heute möglich, dass sich jeder, in jeder Kneipe, in jedem Dorf in der ganzen Welt, mit Gleichdenkenden verbindet und daraus Hunderttausende oder Millionen werden. Früher war Radio Vatikan als einzige katholische Radiostimme in der Welt präsent. Jetzt gibt es zum Beispiel in den Vereinigten Staaten eine Fernsehstation namens EWTN, die große Verbreitung hat. Als Beobachter muss man erkennen, dass die reformorientierten Gläubigen nicht angefangen haben, sich selbst zu mobilisieren. Man hat immer noch den Eindruck, alles hinge vom Vatikan, vom Papst oder von der Kurie ab. Aber die Kurie hat nicht mehr das Gewicht und auch nicht die Macht, die sie früher hatte. Das haben wir klar gesehen am Beispiel der Segnungen für homosexuelle Paare. In der Kurie sagt der Präfekt des Glaubensdikasteriums, man kann homosexuelle Paare segnen – und der ganze Kontinent Afrika sagt nein. Und Bischöfe von Nordamerika über Südamerika bis Polen sagen, wir sind nicht einverstanden. Gleichzeitig sagt die Kurie, der Synodale Weg in Deutschland soll gebremst werden. Der Papst selbst wollte ihn
bremsen. Die deutschen Bischöfe kamen nach Rom, wo ihnen die Leviten gelesen wurden. Und dann haben die deutschen Bischöfe weitergemacht. Das alles zeigt, dass die Kurie nicht mehr allmächtig ist. Aber auch der Papst ist nicht allmächtig. Wenn der Papst will, dass man eine Diskussion über das Frauendiakonat eröffnet und weiterführt, wird das blockiert. Ich denke, auf das Konto der Reformorientierten geht, dass sie zu wenig organisiert sind und dass sie die Gläubigen nicht so mobilisieren.
Was heißt das für die Zukunft?
Politi: Die Kirche in Europa ist offener für Reformen, eigentlich müsste man sagen, in Westeuropa ist sie offener, in Osteuropa weniger. In Osteuropa ist man manchmal irritiert und sagt, jetzt kommt ihr von Westeuropa und sagt uns, was wir tun sollen. Wir hatten sowieso schon schwierige Jahrzehnte in der Sowjetzeit. Es sind heikle Situationen. Aber die Kirche in Westeuropa, die stärker reformorientiert ist, ist eine sehr schwache Kirche in der Gesellschaft, denn die Kirchen sind leer. Die Jugend geht selten in die Messe. Die Jugend hat manchmal eine Beziehung zum Papst als Symbolfigur, aber sie weiß nicht, wie der Bischof der eigenen Diözese heißt. Zum Bild des unvollendeten Pontifikats gehört die Tatsache, dass der Papst logischerweise angefangen hat, an die Peripherie der Weltkirche, in die vergessenen Teile der Welt zu gehen. Das war verständlich in den ersten zehn Jahren. Aber dann kann man Westeuropa nicht einfach ignorieren. Denn Westeuropa ist in gewissem Sinne auch Peripherie. Es ist wahrscheinlich ein historischer Fehler, dass der Papst nicht nach Spanien, Deutschland, Frankreich, England oder Österreich gereist ist. Er war zum Beispiel in Marseille, aber nur, weil dort die Tagung der Bischöfe des Mittelmeerraums war, und er hat auch gesagt, ich komme nicht nach Frankreich, ich komme nach Marseille. Er war in Strasbourg beim Europäischen Parlament. Aber er hat sich nicht mit der Gesellschaft und mit den Gläubigen in Westeuropa auseinandergesetzt. Das ist etwas, was in diesem Pontifikat fehlt. Der Papst ist ja normalerweise nicht konfliktscheu, das kann man ihm nicht vorwerfen. Er hat einmal privat gesagt, ich will nicht dahin gehen, wo die Reichen und die Mächtigen sind. Aber die Kirche in Westeuropa ist nicht mehr reich oder mächtig. Deswegen hätte er auch an diesen Rand der Kirche in Westeuropa gehen sollen.
Buchtipp: Marco Politi, Der Unvollendete. Franziskusʼ Erbe und der Kampf um seine Nachfolge. Verlag Herder 2025, 240 Seiten, € 22,70
Marco Politi
vatikanexperte
Der italienische Journalist Marco Politi beobachtet und reflektiert seit mehr als 50 Jahren die Pontifikate von Paul VI. bis Franziskus. Er ist Autor zahlreicher Bücher und spricht exzellent Deutsch. Über Papst Franziskus erschienen bisher „Franziskus unter Wölfen“ (2017), „Das Franziskus-Komplott“ (2020) und „Im Auge des Sturms“ (2021).
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