Wort zum Sonntag
Ende Jänner gab es in Indien den ersten Corona-Fall, aber erst am 25. März kam es zu einer Ausgangssperre, einem sogenannten Lockdown. Das ging dann sehr plötzlich, innerhalb weniger Stunden und wurde heftig kritisiert. Wie wirkt sich die Sperre auf die arme Bevölkerung aus?
Eva Wallensteiner: Durch dieses ungeplante sehr schnelle Vorgehen – es ist der größte Lockdown weltweit, denn er betrifft 1,3 Milliarden Menschen – haben zahlreiche Arbeiter aus dem informellen Sektor – das sind Tagelöhner, Wanderarbeiter, Erntehelfer, Leute in der Bauindustrie ohne feste Verträge – von einem Tag auf den anderen ihre Jobs verloren. Diese Menschen verdienen im Durchschnitt 5 Euro pro Tag. Das ist so gut wie nichts. Sie haben nicht mehr zum Leben als das für den jeweiligen Tag verdiente Geld, das nun wegfällt. Tausende von ihnen hängen jetzt in den großen Städten wie Delhi oder Mumbai fest und leben unter prekären Umständen – ohne Behausung, ohne Nahrung, ohne Hygieneeinrichtung.
Wie sieht es mit staatlicher Hilfe aus?
Wallensteiner: Es wurde zwar ein Hilfspaket von umgerechnet 20,5 Milliarden Euro geschnürt, aber das Problem vor allem bei der Lebensmittelhilfe sind die Massen an Menschen, die man nicht bewältigen kann. Betroffene sagen, sie können gar nicht angesteckt werden, weil sie sowieso vorher verhungern. Es gibt auch Hilfe von NGOs, auch von der Katholischen Frauenbewegung (kfb), die Lebensmittel ausgeben; doch die Schlangen der Menschen, die für Essen anstehen, sind so lang, dass die Nahrungsmittel nicht für alle reichen. Die Leute hungern. Dazu kommt, dass staatliche finanzielle Hilfe nur jene bekommen, die als unter der Armutsgrenze lebend registriert sind. Menschen in Slums haben oft gar keine Geburtsurkunde und fallen aus dem sozialen Netz.
Man hört, dass Menschen, die als Tagelöhner in die Städte gekommen sind, jetzt versuchen, zu Fuß in ihre Heimatdörfer zu gelangen, da der öffentliche Verkehr ja eingestellt wurde ...
Wallensteiner: Ja, die Leute reagieren aus Panik, wollen heim und sind oft hunderte Kilometer unterwegs. Sie haben nichts zu essen außer vielleicht ein paar Keksen; die Temperaturen werden immer heißer, die Menschen sind dehydriert und brechen teilweise zusammen. Die Gefahr besteht nun, dass durch diese Leute das Virus auch in die hintersten Winkel Indiens getragen wird. Dazu kommt, dass einige indische Bundesstaaten ihre Grenzen komplett gesperrt haben und die Menschen nicht mehr weiterkommen.
Wie ist denn die Lage in den Slums der großen Städte wie Kalkutta oder Delhi? Distanzhalten ist dort doch praktisch unmöglich ...
Wallensteiner: Man muss sich vorstellen, in den Slums leben oft drei Generationen von sechs bis acht Leuten in einem Einraumhaus, an das der nächste kleine Raum der Nachbarn anschließt, wo Gemeinschaftstoiletten von vielen Slumbewohnern benutzt werden und allgemein ein Hygienestandard herrscht, bei dem es einem den Magen umdreht. Abstandhalten funktioniert dort nicht.
Und auch das regelmäßige Händewaschen als Schutzmaßnahme ist sicher ein großes Problem ...
Wallensteiner: Hygienemaßnahmen sind in Indien ein großes Thema, das oft schlampig gehandhabt wird, weil zu wenig sauberes Wasser verfügbar ist. Für die Slumbewohner wird das Wasser in Tanks einmal am Tag geliefert. Zwei, drei Stunden stellen sich die Leute dann für ihre Tagesmenge von bis zu 40 Liter an. Damit müssen sie kochen, putzen, sich selber waschen. Unter diesen Umständen ist es schwierig, sich immer wieder 30 Sekunden lang die Hände ordentlich zu reinigen. Dazu kommt, dass sie sich die Seife schwer leisten können.
Gibt es auch Quarantänemaßnahmen?
Wallensteiner: Wo Corona-Fälle auftreten (Anm.: Indien hat 27.977 Infektionsfälle; Stand 27. 4., AGES; die Dunkelziffer dürfte wegen geringer Testungen viel höher sein), werden betroffene Regionen gesperrt. Lebensmittelrationen liefert der Staat dann direkt dorthin. Das sind Hotspots, wo keiner raus und rein darf. Es gibt auch Quarantäne-Camps, die unter aller Kritik sind, sowohl was die Hygiene betrifft als auch die Essensrationen. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen aus diesen überfüllten Camps weglaufen, weil sie Angst haben, dort zu verhungern. Wanderarbeiter, die es nach Hause geschafft haben, werden von ihren Familien versteckt, damit sie zum einen erst gar nicht in Quarantäne kommen; und zum anderen, weil die Nachbarn Angst haben, angesteckt zu werden. Teilweise verbarrikadieren sie sich deshalb in den Dörfern.
Ist in Zeiten von Corona auch Rassismus spürbar?
Wallensteiner: Ja, es fallen auch in Indien Worte wie China-Virus; im Konflikt zwischen Hindus und Muslimen hört man immer wieder „Corona-Dschihad“ und man fürchtet, Muslime stecken dahinter. Aber auch staatliche Gesundheitsberaterinnen werden angefeindet. Ihre vom Staat verordnete Aufgabe ist es derzeit, im Hinblick auf das Coronavirus Familien in Dörfern zu besuchen und zu kontrollieren, dass sich niemand versteckt hält. Schutzausrüstung wird den schlecht bezahlten Frauen dabei allerdings nicht zur Verfügung gestellt. Unsere Projektpartner berichten, dass die Leute vor diesen Frauen Angst haben und sie nicht ins Haus lassen wollen, weil sie davon ausgehen, dass sie den tödlichen Virus mitbringen. Unter den Gesundheitsberaterinnen stammen auch viele aus Nordostindien, die äußerlich ein bisschen anders aussehen als die Leute im Hauptland Indiens. Sie werden auf der Straße als „Corona“ beschimpft oder auch geschlagen. Der Rassismus ist ein Resultat der Schuldzuweisungen und dazu poppen gerade überall Verschwörungstheorien auf.
Als Projektreferentin der Katholischen Frauenbewegung (kfb) sind Sie immer wieder in Indien bei den Partnern vor Ort. Wie schwierig ist die Hilfe für die Menschen derzeit in der Coronakrise?
Wallensteiner: Wir machen uns große Sorgen und befürchten, dass die Spenden für unsere Hilfsprojekte zu 40 Prozent eingebrochen sind, da uns die Krise genau während unserer großen Familienfasttagsaktion im März erwischt hat. Das stellt die Arbeit unserer Partner vor riesige Probleme. Sie sind nicht nur stark im Gesundheitsbereich tätig, sondern kümmern sich gerade jetzt auch um staatliche Sondergenehmigungen für Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten und trotz Verbots in der Krise ihre Ernte einfahren dürfen – natürlich mit Einhaltung der Abstandsregeln; oder sie setzen sich dafür ein, dass Kinder vor allem aus armen Familien ihre täglichen Essensrationen in den Schulen weiterhin bekommen, auch wenn derzeit kein Unterricht stattfindet. Das sind tolle Organisationen, die Hand in Hand mit der Regierung zusammenarbeiten.
Werden Projekte auch umgewidmet?
Wallensteiner: Ja, als kleine Organisation können wir uns flexibel auf die prekäre Situation einstellen, indem wir z. B. Geld in Lebensmittel und Seifen investieren anstatt in Trainings für 30 Leute, die derzeit sowieso nicht möglich sind. Momentan finden bei unseren indischen Projektpartnern Lernexperimente statt, um physisch Abstand zu halten. So werden auf dem Boden in Abständen Kreise gezeichnet, in die man sich während der Essensausgabe stellen muss, um richtig Distanz zu wahren. Viele Frauenselbsthilfegruppen unserer Partnerorganisationen haben auch sofort damit begonnen, Schutzmasken zu nähen, die man waschen kann.
Birgt die Coronakrise auch Chancen in sich?
Wallensteiner: Indien, wo durch das Wirtschaftswachstum die Natur aufs Grausamste zerstört wurde, hat erstmals wieder einen sauberen Ganges – in so kurzer Zeit. Aber abgesehen von der verbesserten Wasser- und Luftqualität wird nun sichtbar, was selbstverständlich schien. Indien erstickt jetzt mancherorts im Müll, weil er nicht mehr gesammelt wird. Den Indern/innen wird nun bewusst, wie wichtig die Leute sind, die im informellen Sektor arbeiten. Leute, die dafür sorgen, dass das System erhalten bleibt wie in den Supermärkten, treten nicht nur in Österreich, sondern ebenfalls in Indien zu Tage. Auch nach der Krise sollten wir den Blick auf diese Menschen nicht verlieren und ihnen und ihrer Arbeit künftig Respekt zollen und sie würdig entlohnen. Das ist weltweit ein Thema. Es liegt in unserer Hand, dass wir einen positiven Wandel schaffen. «
- www.kfb.at
- https://spenden.teilen.at
In Indien als auch in anderen Ländern des globalen Südens wie Lateinamerika oder Afrika leidet vor allem die von Armut betroffene Bevölkerung am stärksten unter der Coronakrise, weil sie zunehmend auch von Hunger bedroht ist.
Die Kirche hilft. Im Kampf gegen die Not helfen viele katholische Einrichtungen. In Argentinien arbeitet z. B. die Caritas mit Hochdruck daran, inmitten der Coronakrise ihre Anstrengungen bei der Lebensmittelversorgung für die ärmere Bevölkerung zu erhöhen. Vor allem jene, die im sogenannten informellen Sektor tätig waren und ihre Arbeit verloren haben, fehlt es an Nahrung.
Während die Kirchen für Gottesdienste geschlossen sind, konzentriert sich etwa in Kolumbien die „Pastoral Social“ vor allem auf die Notlage von Menschen auf der Straße. In der Grenzstadt Cucuta, einem Anlaufzentrum für Flüchtlinge aus Venezuela, hat das Engagement von Unterstützern den lokalen Pfarreien rund 250 Tonnen Lebensmittel beschert.
In Venezuela selbst, seit Jahren von einer schweren Versorgungskrise geschüttelt, hat nach Einschätzung der lokalen Caritas die Solidarität unter der Bevölkerung durch Corona eher zugenommen. Die Menschen erhöhten ihr Engagement, um sich gegenseitig zu helfen und um zu überleben. «
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