Wort zum Sonntag
Kürzlich waren Sie in Ghana, Nigeria und Ecuador und haben dort von „Jugend Eine Welt“ geförderte Projekte besucht. In den Elendsvierteln der großen Städte sind Kinder, die arbeiten müssen, sicher ein großes Problemfeld, oder?
Reinhard Heiserer: Ja, im nigerianischen Lagos, mit 14 Millionen Einwohnern eine der bevölkerungsreichsten Städte weltweit, sollen 100.000 Kinder auf der Straße leben. Im Dschungel der Großstadt versuchen sie, sich mit Jobs wie Schuhe putzen oder Süßigkeiten verkaufen über Wasser zu halten. Die Schule besuchen sie nicht. Unsere langjährigen Projektpartner, die Salesianer Don Boscos, betreiben dort eine Einrichtung für Kinder in Risikosituationen, vor allem für Straßenkinder. Die soll nun ausgebaut werden zu einem so genannten „Child Protection Center“, also einem Kinderschutzzentrum, wo auch berufspraktische Ausbildungen möglich sein werden – ganz im Sinne unseres Leitsatzes „Bildung überwindet Armut“. Das ist eines unserer Jubiläumsprojekte zu 25 Jahre „Jugend Eine Welt“. Ja – und in Ecuador war ich heuer auch schon. Da kamen viele Erinnerungen hoch an meine Anfänge in der entwicklungspolitischen Arbeit, die mehr als 30 Jahre zurückliegen.
Wie war das damals?
Heiserer: 1991 haben meine vier Jahre als Entwicklungshelfer in Quito, der Hauptstadt Ecuadors, begonnen, wo ich als gelernter Elektrotechniker in einem Projekt etwa 100 ehemalige Straßenkinder zu Elektrikern ausgebildet habe. Das Projekt bestand aus einem mehrstufigen Programm: Es gab die Streetworker, also die Sozialarbeiter, die zu den Kindern auf die Straße gegangen sind, mit ihnen Kontakt aufgenommen und sie immer wieder eingeladen haben, ins Schutzzentrum zu kommen. Manche sind dieser Einladung gefolgt, manche nicht. Und es gab die Notschlafstelle, wo sich die jungen Leute auch waschen konnten, sie etwas zu essen bekamen und sie untertags z. B. auch Gelegenheit hatten, Fußball zu spielen. Darüber hinaus war es jungen Leuten möglich, sich zum Elektriker, Tischler oder Mechaniker ausbilden zu lassen. Einige haben es dadurch im Laufe der Jahre geschafft, von der Straße wegzukommen. Ab und zu bin ich mit den Streetworkern auch durch die Stadt gefahren. Sie wussten, wo sich die Kinder aufhalten – nämlich dort, wo es Geld zu verdienen gibt: auf den Märkten und in Supermärkten, wo sie etwas tragen können; rund um die Busbahnhöfe, die Umschlagplatz sind für die Mädchenprostitution; und in der Innenstadt, wo sich die Touristen aufhalten, die angebettelt werden. Ein Erlebnis habe ich bis heute immer wieder vor Augen.
Was ist geschehen?
Heiserer: Eines Tages hieß es, ein paar Kinder halten sich in einer Straßenunterführung auf, die einseitig zugemauert war. Also machten sich Sozialarbeiter, ehemalige Straßenkinder – sie waren hilfreich beim Einfädeln von Erstkontakten –, Polizei – manche Plätze konnten die Streetworker nicht ohne polizeilichen Schutz aufsuchen – und ich auf den Weg dorthin. Da lagen dann um die zwölf Jugendliche benommen von Drogen, vom Klebstoff-Schnüffeln und vom Alkohol im Dreck. Der Gestank war fürchterlich.
Wie alt waren die Jugendlichen?
Heiserer: Zwischen zwölf und siebzehn Jahre. Sie wurden dann aufgerüttelt und angesprochen. Mit dabei war ein etwa sechsjähriges Kind. Das hat mich total geschockt. Es stellte sich raus, dass Jugendbanden immer ganz kleine Kinder mit dabei haben, sich quasi Kindersklaven halten, weil die leichter durch die Absperrgitter oder durch kleine Fenster in die Häuser kommen. Der Kleine ist zwar von der Bande gut behandelt worden, aber sie haben ihn für ihre Einbrüche gebraucht. Das ist mir insofern hängengeblieben, weil auf der einen Seite die Fürsorge der Jugendlichen für das Kind da war, aber auf der anderen Seite diese Not, zu stehlen, um auf der Straße zu überleben. Das ist schon hart, dass sich Jugendbanden der noch Schwächeren bedienen.
Hat Sie dieses Erlebnis dazu motiviert, gemeinsam mit anderen 1997 „Jugend Eine Welt“ zu gründen und Kindern in den Ländern des Südens nachhaltig zu helfen, der Armutsspirale zu entkommen?
Heiserer: Das war eine der Motivationen. Diese Jahre in Ecuador waren für mich wichtig, weil ich gesehen habe, es gibt so tolle Leute, die eine ausgezeichnete Arbeit machen, die sich wirklich für die Kinderrechte einsetzen, die auf die Straße gehen, die Galle spucken vor Ärger, wenn Kinder schlecht behandelt und ausgebeutet werden.
Armut ist also ein Grund für ausbeuterische Kinderarbeit, die in den Armenvierteln beim Verkauf von Waren auf der Straße beginnt und bis zu Abhängigkeiten und Zwangsarbeit in Minen, Steinbrüchen, Fabriken oder als Kindersoldaten und als Prostituierte reicht. Sehen Sie das auch so?
Heiserer: Als Dach drüber kann man sagen, dort wo Armut massiv herrscht, ist das ein riesengroßer Druckmacher für Kinderarbeit. In Summe gibt es mehrere Ursachen. Anstatt zur Schule zu gehen, müssen Kinder arbeiten und zum geringen Familieneinkommen beitragen. Dann haben wir ausbeuterische Kinderarbeit für Jobs, die nur Kinder machen können. Ich habe das beobachtet in den Kohleminen Kolumbiens. Das sind kleine Löcher, wo Kinder die Säcke rein- und rausziehen. Ein Erwachsener käme da gar nicht durch. Ein weiterer Grund ist meiner Meinung nach Gewalt in der Familie, die dazu führt, dass Kinder von zu Hause weglaufen und auf der Straße landen – aus Verzweiflung und Angst, wieder geschlagen zu werden. Ein anderer Punkt ist, dass Kinder arbeiten wollen, um etwa dem Bruder die Schule zu zahlen oder für die kranke Mama Geld zu verdienen, weil der Papa nicht da ist.
Sind eher Mädchen oder Burschen betroffen?
Heiserer: Kinderarbeit wird hauptsächlich als männlich dominiert gesehen. Das ist die sichtbare Kinderarbeit, das sind die, die am Straßenrand stehen und etwas verkaufen, die zaubern, Kunststücke machen, die im Supermarkt tragen helfen. Aber die weibliche Kinderarbeit ist viel stärker verbreitet und meist unsichtbar. Das sind die Mädchen, die im Hinterhof Wäsche waschen, die im Haushalt helfen, die als Hilfskraft verborgt werden, z. B. an einen entfernten Verwandten. Am ehesten sieht man Mädchen öffentlich im Bereich der Fahrerprostitution auf den Busbahnhöfen. Aber alle, die in den Häusern arbeiten und als Haushaltshilfen und Wäscherinnen ausgebeutet werden, die sieht man nicht. Das ist ein großes Problem.
„Jugend Eine Welt“ zählt zu den Organisationen, die die Kampagne „Kinderarbeit stoppen“ unterstützt. Gefordert wird u. a., dass Politiker aktiv für ein europäisches Lieferkettengesetz eintreten, um damit weltweit ausbeuterischer Kinderarbeit den Riegel vorzuschieben ...
Heiserer: Ja, es ist uns wichtig, die Menschen für dieses Thema noch stärker zu sensibilisieren, denn es gibt viele Produkte in den Supermarktregalen, die nach wie vor von Kindern mitproduziert werden – Kleidung, Kosmetik, Teppiche, Handys oder Schokolade. Solche Initiativen helfen, hier gegenzusteuern. Und generell wollen wir natürlich weiterhin Brückenbauer sein zwischen den Menschen, die Hilfe, Förderung, Unterstützung und Netzwerke brauchen und den Menschen, die diese Mittel, Förderungen und das Knowhow haben. Unsere Vision ist der Don-Bosco-Ansatz: Da sein und sich einsetzen für junge Menschen. «
Unter www.kinderarbeitstoppen.at kann die Kampagne unterstützt werden
Zur Sache
Am 24. Juni feiert „Jugend Eine Welt – Don Bosco Entwicklungszusammenarbeit“ ihr 25-Jahr-Jubiläum. „Bildung überwindet Armut“ – so lautet nach wie vor der Leitsatz der österreichischen Hilfsorganisation. Seit 1997 setzt sie sich weltweit für die Verbesserung der Lebensperspektiven von Kindern und Jugendlichen am Rande der Gesellschaft ein.
Das über ein Vierteljahrhundert andauernde Engagement im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit „für die Kinder und Jugendlichen unserer EINEN Welt“ konkretisierte sich in mehr als 3.000 verschiedenen Sozial- und Bildungsprojekten – wie Schulen, Berufsausbildungseinrichtungen, Sozialzentren und Straßenkinderheimen – in Asien, Afrika, Lateinamerika, dem Nahen Osten und Osteuropa, die vom Hilfswerk unterstützt, mitgetragen oder weiterentwickelt wurden. Im Bereich der humanitären Hilfe gelte laut Geschäftsführer Reinhard Heiserer seit Ausbruch des Ukraine-Krieges u. a. der Hilfe für die aus ihrem Heimatland geflüchteten Menschen besonderes Augenmerk.
Mit an Bord bei „Jugend Eine Welt“ ist seit September 2021 die Moderatorin, Schauspielerin und Bestsellerautorin Chris Lohner (78). Als neue ehrenamtliche Botschafterin ist es ihr ein großes Anliegen, sich für benachteiligte Kinder und Jugendliche in aller Welt einzusetzen.
- Infos: www.jugendeinewelt.at
Zu Bild 3: Reinhard Heiserer, Geschäftsführer der österreichischen Hilfsorganisation „Jugend Eine Welt – Don Bosco Entwicklungszusammenarbeit“, gründete 1997 gemeinsam mit einer Gruppe von motivierten Leuten den Verein „Jugend Eine Welt“. Heute ist daraus eine der größten Spendenorganisationen Österreichs geworden. Ziel ist nach wie vor als Fördergeber Kinder und Jugendliche in den ärmsten Ländern weltweit nachhaltig zu unterstützen.
Wort zum Sonntag
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