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Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für verhärtete Fronten, Feindschaften, Spaltungen? Warum fällt es oft so schwer, kompromissbereit zu sein?
Stefan Seidel: Ich denke, das hat mit dem gewachsenen Problemdruck zu tun. Viele Gesellschaften sind aufgrund verschiedener Krisen in den letzten Jahren in einen Kampfmodus gerutscht. Globale Krisen erzeugten Ohnmacht und Angst. Wirtschaftliche Entwicklungen führten zu einer Spaltung in wenige Gewinner und viele Verlierer.
Wenn sich der soziale Druck so erhöht, werden Teilhabe und Kompromisssuche schwieriger. Und wenn Positionen als alternativlos und unverhandelbar ausgegeben werden, zum Beispiel Sozialabbau oder Aufrüstung, kann das dazu führen, nur noch total dafür oder total dagegen zu sein. Dabei kommt das gemeinsame „Wir“ abhanden.
Das nutzen dann populistische Kräfte aus und hetzen gegen „die da oben“ oder gegen Minderheiten als Sündenböcke. Das vertieft wiederum die Spaltungen und verhärtet die Fronten.
Statt abzurüsten wird aufgerüstet. Das zeigt sich stark z. B. im russisch-ukrainischen Krieg. Sich militärisch zu verteidigen wird kaum noch in Frage gestellt. Wie gefährlich schätzen Sie das ein?
Seidel: Tatsächlich halte ich die gegenwärtige Situation für sehr gefährlich. Denn durch das umfängliche Setzen auf die militärische Option wird die Gewaltverstrickung immer weiter vertieft. Wenn das Heil im nächstgrößeren Waffensystem, in Kriegstüchtigkeit und Sieghaftigkeit gesucht wird, geraten andere Auswege leicht aus dem Blick. Mich erschreckt dieser blinde Glaube an das Militärische. Als hätten wir nichts aus den Blutmühlen der Geschichte gelernt. Waffen schaffen keinen Frieden. Krieg nährt Gegenkrieg und Gegenkrieg nährt Krieg. Man entfesselt damit eine nicht beherrschbare Zerstörungsspirale, die einen viel zu hohen Preis kostet. Schon der Kriegstheoretiker Clausewitz wusste, dass die Kriegslogik eine Logik ist, die in den Krieg hineinführt, aber nicht mehr aus ihm heraus. Militärische Mittel zur Konfliktlösung sollten, wenn überhaupt, die allerletzte Ausnahme bleiben und nicht zum Maß der Dinge gemacht werden, wie es gerade geschieht. Gewaltspiralen müssen unterbrochen und die Gesetze des Tötens und Wiedertötens durchbrochen werden. Denn wie Gandhi einst sagte: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, wenn nicht der Frieden selbst der Weg ist.“
Welche Perspektiven und gewaltfreien Auswege sind für Sie als Theologe und Psychologe denkbar und möglich, um das Freund-Feind-Schema aufzuweichen?
Seidel: Man müsste aus den Schützengräben des Gegeneinanders heraussteigen und lernen, die Welt auch aus den Augen des Anderen zu sehen. Es ist zwar zunächst entlastend, wenn man in einer schwierigen Situation glasklar zwischen gut und böse, richtig und falsch, Freund und Feind unterscheidet. Doch das wird der Wirklichkeit selten gerecht. Da gibt es viele Zwischentöne, die wiederum Anknüpfungspunkte für Vermittlung und Kompromiss bieten.
Gefährlich wird es immer, wenn man sich hundertprozentig als die „gute Seite“ versteht und „das Böse“ hundertprozentig beim Anderen verortet. Dann bleiben fast nur Gewaltmittel und ein Trachten nach der totalen Besiegung des Anderen. Doch nicht nur Krieg und Verfeindung beginnt in den Köpfen, sondern auch Frieden und Verständigung.
Was braucht es, denken Sie, um die Bereitschaft dazu zu stärken und zu fördern?
Seidel: Dafür dürfte man den Anderen nicht total verteufeln, sondern müsste versuchen, ihn in Teilen zu verstehen und ihn als Teil der einen Menschheitsfamilie zu sehen. Man müsste aus der Falle der Feindschaft herausfinden und eine vorverurteilende und stereotype Sicht auf den Anderen überwinden. Dabei hilft es, ihn näher kennenzulernen, seine Kultur, seine Geschichte, sein Leid und seine Ängste. Begegnung, Gespräch, Respekt, das Wahrnehmen des Antlitzes und das Erkennen des gemeinsamen verletzlichen Kerns helfen bei der Entfeindung. Die im Äußeren herrschende Spaltung müsste zuerst innerlich überwunden werden. In sich selbst müsste ein Raum für ein neues „Wir“ geschaffen werden.
Wenn nun aber das Gegenüber absolut nicht bereit ist zur Versöhnung, wenn der Wille dazu fehlt – Beispiel Putin: Was tun in solch einem Falle?
Seidel: Wichtig wäre es, sich auch in solchen scheinbar aussichtslosen Fällen, nicht in die totale Verfeindung zwingen zu lassen und nur noch nach den Gesetzen der Gewalt und Gegengewalt zu handeln. So schwer es auch fällt, müssten immer und immer wieder Signale der Deeskalation und des Dialogs gesendet werden. Immer und immer wieder müssten Verhandlungen um eine gemeinsame Lösung gesucht werden. Man darf den Gesetzen des Krieges nicht die totale Herrschaft überlassen, wenn man eine Begrenzung der Opferzahlen und Zerstörungen anstrebt. Zu solch einer schweren Arbeit an der Friedenslogik gehört es, auf die Macht der Gewaltlosigkeit und Liebe zu vertrauen.
Sie als Theologe sehen ja in der Bergpredigt von Jesus im Matthäusevangelium (Matthäus 5,1–7,29) ein großes Potential für den Frieden. Wie kann sie in unserer heutigen Zeit dazu eine Anleitung sein?
Seidel: Das Wichtigste in der Bergpredigt ist die Durchbrechung der Gewaltspirale. Dass durch die Entfeindung des Gegenübers und durch den einseitigen Gewaltverzicht ein Punkt erreicht wird, an dem andere Lösungen als die der Gewalt greifen können. In einer gewaltverstrickten Situation eröffnet das eigene Handlungsmöglichkeiten. Wenn ich vom Gegner zunächst kein gewaltloses Verhalten erhoffen kann, kann ich doch selbst dieses andere Verhalten in die Situation eintragen und damit eine neue Entwicklung ermöglichen. Die Gegenkraft zu Hass und Gewalt ist die Liebe. Sie verlangt einem oft einen ungeheuren Sprung ab. Aber dafür öffnet sie Auswege aus der Gewalt. Es geht darum, dass Böses nicht mit Bösem, sondern allein durch Liebe überwunden wird.
Haben Sie trotz der vielen Konflikte und Krisen in der Welt tatsächlich Hoffnung auf mehr Frieden?
Seidel: Ja, es gibt immer Hoffnung. Denn Hoffnung ist ein Name Gottes. Hoffnung machen mir die vielen Menschen, die in der Geschichte ausweglose Gewaltsituationen durch Versöhnungs- und Friedenslogik überwunden haben. Und Hoffnung machen mir die Menschen, die heute auch inmitten heißer Konflikte Frieden und Versöhnung leben. Etwa der israelisch-palästinensische Parents Circle, in dem sich Eltern, die Kinder in diesem blutigen Konflikt verloren haben, zusammengeschlossen haben, um hier und heute die Gewalt zu beenden und ein friedliches Zusammenleben zu verwirklichen. Es ist nicht umsonst, an der Friedenslogik festzuhalten und auf die größere Kraft der Liebe zu bauen, auch wenn der Gegenwind stark ist. Denn darin könnte der Same für eine friedlichere und versöhntere Zukunft liegen.
Buchtipp: Stefan Seidel, Entfeindet Euch! Auswege aus Spaltung und Gewalt. Claudius Verlag München, 2024, € 20,95.
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