Es ist ein Zeichen der Nächstenliebe, wenn wir durch die Reduktion von körperlichen Sozialkontakten einander nicht in Gefahr bringen. Wir haben alle eine gesellschaftliche Verantwortung. Wenn wir jetzt einander nicht die Hand geben, können wir doch füreinander da sein. Selbst wenn wir zueinander Abstand halten müssen, können wir uns innerlich nahe sein. Nähe und Distanz im Umgang untereinander, Isolation und Sozialkontakte, private Beziehungen und Öffentlichkeit: wer hätte vor einer Woche gedacht, dass das alles neu zu regeln und zu ordnen ist? Ja, wir haben das Leben in vielen Bereichen neu zu lernen.
Es wird uns bewusst, wie verletzlich, fragil und zerbrechlich unser eigener Körper, aber auch unser gesamtes gesellschaftliches System ist. Nicht nur die Aktienkurse und die Wirtschaft sind weltweit vernetzt, auch Menschen als Träger und Trägerinnen von Viren sind es. Unser Körper ist keine gegen Viren immune Festung, wenngleich die Auswirkungen für Betroffene verschieden und die Ansteckungsgefahr oft unsichtbar vorhanden ist. Kein Land kann sich absolut sicher fühlen. Gerade deshalb gilt es jetzt vorsichtig zu sein, um großen Schaden für sich und andere, für die eigene Familie und die gesellschaftliche Gemeinschaft abzuwenden.
Was wir jetzt brauchen, ist aber gerade kein egoistischer Rückzug auf die Sorge um die eigene Gesundheit, sondern das gute Schauen auf die Schutzbedürftigen und auf die Risikogruppen. Jede Krise erzeugt neue Vergesslichkeiten und hat ihre blinden Flecken – besonders gegenüber jenen, die mit dieser Situation überfordert sind, die gerade jetzt nicht das Gefühl vermittelt bekommen sollen, alleingelassen zu sein. Trotz der notwendigen körperlichen Distanz gilt es den Herzen und den Seelen diesbezüglich gefährdeter Menschen nahe zu sein. Nicht im Stich lassen und nicht im Stich gelassen werden, das zeichnet eine humane Gesellschaft und eine christliche Gemeinschaft aus. Was brauchst du? Mit dieser Frage vermag man aktiv notwendige Unterstützung anzubieten: Das können dann die Hilfe beim Einkaufen, die Besorgung in der Nachbarschaft oder das Aufrechterhalten von regelmäßigen telefonischen Kontakten sein. Das könnte bedeuten, dass wir wieder einmal einen Brief schreiben oder das eine oder andere lustige Urlaubsfoto als Erinnerung versenden. Lachen, Freude haben an schönen Dingen und das Teilen wunderbarer Erlebnisse über die Kommunikationsmittel ist in dieser Situation wichtig. Ein großer Dank gilt allen, die in der Pflege von Kranken, von älteren und pflegebedürftigen Menschen arbeiten und die Grundversorgung ermöglichen. „Schau auf dich, schau auf mich“ ist das Motto einer gemeinsamen Anstrengung, die Auswirkungen des Coronavirus einzudämmen.
Auch das kirchliche Leben schaut anders aus. Öffentliche Gottesdienste, Runden, Treffen, Begegnungen, Sitzungen, Bildungsveranstaltungen, Versammlungen sind ausgesetzt. Feste und Feiern werden verschoben. Wir hören in der Kirche nicht auf zu beten, Gottesdienst und Eucharistie zu feiern – wenngleich ohne die physische Anwesenheit von Gläubigen. „Meine Kirche ist immer gesteckt voll mit Leuten“, soll Charles de Foucauld einmal gesagt haben, als er bei der Messe allein war. Priester feiern Eucharistie nie für sich allein, sondern immer für die ihnen anvertrauten Gläubigen und für die ganze Welt. Alle sind eingeladen über Medien teilzunehmen (Radio, Fernsehen, Internet …) und sich im Gebet anzuschließen. Es wird auch weiterhin seelsorgliche Angebote geben. „Ich höre dir zu“, das können Seelsorgerinnen und Seelsorger auch über Telefon oder Social-Media-Kanäle.
Stärkung des psychosozialen Immunsystems
Diese Zeiten sind auch eine Herausforderung, unser psychosoziales Immunsystem gegenüber feindliche Viren zu stärken. Geradezu tödliche Viren dieser Art sind z. B. Hass, Verachtung, Feindbilder oder auch verantwortungslose Gleichgültigkeit. Auch Panik, Hysterie oder Aggression stärken nicht das eigene Selbst. Wer nur eigene Interessen verfolgt, kann nicht wirklich für andere da sein. Aber auch wer ständig überfordert ist, sich nicht helfen lässt oder alles allein im Griff haben möchte, kann nicht wirklich zum Segen für sich und für andere arbeiten und schwächt im Grunde das eigene Leben. Was macht demgegenüber „resilienzfähig“ oder was macht unser Leben im guten Sinn robuster? Krisen wie die Corona-Pandemie sind eine Herausforderung, eine gute Verankerung zu suchen, wieder einmal am Fundament des eigenen Lebens zu arbeiten. Für Viktor E. Frankl, einem jüdischen Wiener Arzt und Psychotherapeuten, der das Grauenvolle der Konzentrationslager erlebt und überlebt hat, ist ein Schlüsselsatz, um auch in Extremsituationen zu bestehen: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“
In Zeiten, in denen die äußere Mobilität stark eingeschränkt ist, bietet sich die Gelegenheit, auch eine geistliche Reise nach innen anzutreten. Der UN-Generalsekretär und Friedensnobelpreisträger Dag Hammarskjöld gibt dabei zu bedenken: „Die längste Reise ist die Reise nach innen.“
Außer dem Gefühl der Nähe, der Möglichkeit von Begegnung und Gespräch, dem Wissen um die Geborgenheit in der Gemeinschaft mit anderen braucht unsere Seele auch Zeiten der Stille, braucht Freiräume, in denen wir uns nicht gehetzt und gedrängt fühlen, nicht unter Druck und Zwang stehen. Eine positive Kultur der Einsamkeit ist letztendlich sogar Voraussetzung für jede schöpferische, geistige und geistliche Tätigkeit. „Hätte ich nicht eine innere Kraft, so müsste man verzweifeln an solchem Wahnsinn des Lebens“, schrieb in einem seiner Briefe der Innsbrucker Priester, der Sel. Carl Lampert, der am 9.11.1944 in Halle an der Saale hingerichtet wurde. Innerlichkeit geht so gesehen nicht auf Kosten der Zuwendung. Besonnenheit läutert das Engagement, schärft den realistischen Blick auf das Notwendige, ist Kraft für das Handeln mit gesundem Menschenverstand und fördert mitfühlende Kommunikation.
Was stärkt das geistige Rückgrat? Es ist die Erfahrung der Freude und der Schönheit. Die Vergegenwärtigung bisher geschenkter Sternstunden, Erfahrungen des Glücks, der Lebensfreude und intensiver Beziehungen kann zu einem Anker der Hoffnung werden. Diese Erinnerungen geben Zuversicht auch in dunklen Stunden und lassen nicht verzweifeln, wenn man eine gewisse Zeit auf Abstand leben muss. Vertrauen und Hoffnung in unübersichtlichen Zeiten geben verlässliche Beziehungen, Freunde und der Zusammenhalt in der Gesellschaft über alle Grenzen und Gegensätze hinweg.
Echte Nahrung für die Seele – zum Trost, zur Ermutigung und zur Stärkung – ist auch das Wort Gottes: Nahrung, Brot des Lebens, höchste Richtschnur des kirchlichen Glaubens, Halt, Kraft und nie versiegender Quell des geistlichen Lebens, Glaubensstärke und Seele der Theologie – das alles ist ja das Wort Gottes für das Zweite Vatikanische Konzil.
Nahrung für die Seele ist ebenso die Eucharistie: „Du schenkst uns das Brot, die Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit. Wir bringen dieses Brot vor dein Angesicht, damit es uns zum Brot des Lebens werde“, heißt es im Gabengebet der Messe. Ich möchte in diesen Wochen daher alle ermutigen, das Beten zuhause neu einzuüben. Im Blick auf den Kommunionempfang empfehle ich mit Kardinal Schönborn, die alte Gewohnheit der geistlichen Kommunion wieder zu beleben. Diese besteht etwa in der Bibellektüre oder im Gebet nicht zuletzt auch für die vielen, die sich um ihren Arbeitsplatz Sorgen machen, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten oder die von Krankheit betroffen sind.
„Der Herr segne euch und behüte euch. Der Herr lasse sein Angesicht über euch leuchten und sei euch gnädig. Der Herr wende sein Angesicht euch zu und schenke euch Frieden.“ (Num 6,24-27)
+ Manfred Scheuer
Bischof von Linz