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„Loveless", der neue Film von Andrey Zvyagintsevs, ist eine schonungslose Diagnose der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation.
Es gibt eine Sequenz in „Loveless" („Nichtliebe"), die wie ein Faustschlag in den Magen wirkt und gleichzeitig als Summe des bisherigen Schaffens des russischen Regisseurs Andrey Zvyagintsevs betrachtet werden kann: Der stille Schrei des zwölfjährigen Alyosha, der sich hinter der Tür des Badezimmers versteckt, nachdem er eine heftige Auseinandersetzung seiner Eltern mitanhören musste. Zhenya und Boris befinden sich mitten in einem Scheidungskrieg. Sie haben neue Beziehungen und der Störfaktor ist Alyosha, den keiner von beiden bei sich haben will. Er soll in ein Internat und später zum Militär abgeschoben werden. Am nächsten Tag ist der Junge verschwunden. Zhenya schaltet die Polizei ein, die den Fall nur routinemäßig abhandelt, so wie die Eltern nur widerwillig und ohne großes Engagement am Auffinden ihres Sohnes interessiert sind. Lästig ist ihnen, dass sie sich dadurch wieder miteinander konfrontieren müssen. Erst eine Gruppe von Freiwilligen, die von einem motivierten Koordinator geleitet wird, nimmt die Suchaktion ernst.
„Loveless" ist ein zutiefst pessimistischer Film. Immer wieder hat Zvyagintsev in seinen Filmen zerstörerische Paarbeziehungen und die damit einhergehende Verwahrlosung junger Menschen thematisiert. Niemals allerdings war seine Diagnose der mittelständischen Gesellschaftsschicht so radikal wie in diesem Film. Sein letzter Film „Leviathan" hatte so viel Staub aufgewirbelt, dass sich der 2014 amtierende russische Kulturminister veranlasst sah, in Zukunft nur noch patriotische Filme zu finanzieren. Auf den ersten Blick mag „Loveless" weniger politisch sein, doch unterschwellig wird gerade über das permanent eingeschaltete TV-Gerät die aufgeladene militarisierte Stimmung in Russland spürbar. Die Entfremdung und die „Vergletscherung der Gefühle" sind aber transnational zu verstehen. Die einzige empathische Figur im Film ist der Freiwilligenkoordinator der Suchtruppe. Sie hat eine Entsprechung in einer real existierenden Organisation, da in Russland in den letzten Jahren zahlreiche Personen, darunter vor allem Jugendliche, verschwunden sind.
Doch man würde dem Film nicht gerecht werden, ihn auf seine politische Botschaft zu reduzieren. In erster Linie ist „Loveless" eine Studie über Egoismus und Flucht in materielle Werte, die Allgemeingültigkeit besitzt. Wie immer findet Zvyagintsev auch symbolhaltige Bilder, die lange nachwirken. Man denke nur an das Skelett des gestrandeten Wals in „Leviathan" (2014), an das tote Pferd, das von Elena im gleichnamigen Film (2011) aus dem Zugfenster gesehen wird, oder an den einsamen, in der weiten Landschaft stehenden Baum in „The Banishment" (Die Verbannung, 2007). Doch der Baum, der am Beginn und Ende von „Loveless" zu einem pompösen Sound auf der Leinwand erscheint, ist das bislang rätselhafteste Bild im Werk von Zvyagintsev. Hier eröffnet sich eine übernatürliche Dimension, die diesen Film zum bisherigen Höhepunkt des noch jungen Kinojahrs macht.
Einführung und Diskussion am Freitag, 6. April, 21 Uhr, im Moviemento Linz.
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