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Seine Hände sind kalt, seine blaue Jacke viel zu leicht für diese frostigen Temperaturen. Es ist 8 Uhr morgens. Mitten in Linz. Johannes Seidl holt sich sein Frühstück. Fast täglich kommt er hierher ins Of(f)n-Stüberl der Stadtdiakonie. Das Of(n)-Stüberl ist eine wichtige Heimat und auch die Menschen, die er dort trifft, zählt er teilweise zu seinem Freundeskreis. Johann aus der Steiermark, zum Beispiel. Er kann gut zuhören, urteilt nicht, ist einfach da. Johann und Johannes sind Theologen ohne kirchliche Anstellung. Seelsorge passiert trotzdem.
Seit 2006 kommt Johannes Seidl ins Of(f)n-Stüberl. Gestrandete, Geflüchtete, Menschen von hier und anderswo finden dort nebeneinander Platz. In der Fastenzeit fällt sein Frühstück hier spärlich aus. Kaffee und trockenes Brot, sonst nichts. Damit kommt er durch den Tag. Das Angebot ist kostenlos. Das ist wichtig für ihn. Es kommt seinem Ideal, „100 Prozent Barmherzigkeit" zu leben, sehr nahe. „Ich gebe für mich kein Geld mehr aus", sagt er mit großer Bestimmtheit. Er will aus dem Geldkreislauf aussteigen und nicht mehr nach den Spielregeln der Wirtschaft leben. Dem „Do ut des"-Prinzip („Ich gebe, damit du gibst") will er etwas anderes entgegen setzen. Er nennt es „Do et das" – „Ich gebe, du gibst". „Ohne Zweck, ohne Zwang, in Freiheit, aus Liebe – und alle sind glücklich", beschreibt Seidl seine Vision. Er sieht es als „franziskanische Berufung". Vom Evangelium motiviert ist es für ihn eine Form, Jesus Christus heute nachzufolgen.
Utopisch für viele, für Johannes Seidl eine Wirklichkeit, die der Theologe und Sozialpädagoge schon seit Jahren zu leben versucht.
Einige Jahre war er obdachlos. Zurzeit lebt er mit seinem 22-jährigen Sohn in einer kleinen Wohnung in Traun, ist aber viel auf der Straße – aus Solidarität mit den Obdachlosen, wie er selbst sagt. In Linz-Urfahr hat er nun ein kleines „Refugium", eine Holzhütte ohne Wasser, ohne Heizung, in der er übernachten kann. Auch im Winter. Sr. Tarcisia vom Vinzenzstüberl hat ihm einen warmen Schlafsack geschenkt. „Mehr brauch ich nicht, das geht schon", sagt er mit einem Lächeln im Gesicht. Der Überfluss, den er in der Konsumgesellschaft erlebt, ist wie eine fremde Welt für ihn. Von der Jagd nach Statussymbolen wie Wohnung, Haus, Auto, gut bezahlten Jobs und Kleidung distanziert er sich. Der Konsumrausch sein!?", sagt er. Trotzdem kann er genießen. Den Kaffee, den er sich auch in der Fastenzeit gönnt, das Zusammensein mit Menschen, Beziehungen, Barmherzigkeit und das Autostoppen.
Von privaten und beruflichen Krisen erzählt der heute 54-Jährige im Gespräch, nicht nur einmal stellte er die Sinnhaftigkeit seines Lebens radikal in Frage. Als vor vielen Jahren – ausgerechnet in einer Osternacht – seine Ehe in die Brüche ging und er die gemeinsame Wohnung verlassen musste, war das ein Tiefpunkt seines Lebens. Seine Kinder hielten ihn am Leben, das Gefühl, für sie verantwortlich zu sein, trug ihn durch diese schwere Zeit. Beruflich hatte Johannes Seidl öfter zu kämpfen, seine Berufstätigkeit als Pastoralassistent in drei Pfarren und in einem Altenheim war von (zu)vielen Herausforderungen und Schwierigkeiten begleitet, die Anstellung im kirchlichen Dienst wurde einvernehmlich beendet.
Die Liebe zur Kirche ist geblieben. Und auch der Wunsch, ein spirituelles Leben zu führen, ein „Diener der Barmherzigkeit" zu sein. So nennt Johannes Seidl seinen Weg. Er bemühte sich, als freier, selbstständiger Referent seine Ideen von Barmherzigkeit als Lebensprinzip einem interessierten Publikum bei Seminaren schmackhaft zu machen. Das stellte sich als undurchführbar heraus. Letztendlich hat sich Johannes Seidl für ein Leben ohne fixes Einkommen entschieden.
Heute lebt er von der Notstandshilfe und vom Kupfermuckn-Verkauf. Johannes Seidl ist Kupfermuckn-Redakteur, viele Linzer/innen kennen ihn deshalb. In der Straßenzeitung wirkt er nach innen und nach außen: In der Redaktion wird er als „Prediger Gottes", als „unerschütterlich im Glauben" und als „Re-Inkarnation des hl. Franziskus" betrachtet. In seinen Beiträgen, die in der Kupfermuckn erscheinen, macht er auch Kirche und Glaube immer wieder zum Thema und regt zum Nachdenken an: Was braucht der Mensch zum Leben?
Auf jeden Fall Barmherzigkeit.
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