Wort zum Sonntag
„Morgen ist der erste Sonntag im Advent.“ In ihrer Stimme klangen silberne Glöckchen. „Ich geh einkaufen. Soll ich dir was mitbringen?“ „Ich habe alles.“ „Ja?“ „Ja.“ Er seufzte behaglich, schloss die Augen und dachte sich ein paar Träume. Sie trat vor das Haus, als käme sie nach Hause. Es hatte geschneit. Die kleine Stadt war in Zuckerwatte eingesponnen. Jetzt aber langsam, Schritt für Schritt, nur keine Eile, trotz aller Ungeduld. Ein paar Gassen weiter leuchtete der Stern der Verheißung im Schaufenster jener Konditorei, die sie seit Kindertagen kannte: Es war so schön wie immer. Die Heiligen Drei Könige neigten im Stall zu Bethlehem die Häupter vor dem Kinde. Drei Generationen Zuckerbäcker hatten die kleine Porzellanfigur unbeschädigt bewahrt. Alle Jahre wieder wurde sie in eine Krippe aus Lebkuchen gelegt, auf essbares Gras gebettet. Das lag später dann auch in den Osternestern. Aber jetzt war das Heil der Welt erst einmal hier zu finden und nicht am Kreuz. Die Hirten standen fromm und ergriffen da, kleine, dicke Marzipanengel jubilierten. Da galt es nicht lange zu zögern. Beschwingt schlug auch sie die Flügel, flatterte durch die Himmelstür und ließ sich an einem der kleinen Marmortische nieder. Ein rosa Servierengel lächelte fragend und wissend. Sie nickte selig und versank in holder Erwartung. Und dann: auf schneeweißem Porzellan mit fein durchbrochenem Rand ein süßer Berg Sinai. Das gelobte Land lag nahe. Eine rasch verwehte Ewigkeit verharrte sie. Das silberne Löffelchen schwebte über dem Gipfel, auf dem sich Gelee von Himbeeren und Brombeeren mit schneeweißem Schlagobers vermählte, senkte sich, tauchte ein, berührte die Lippen, füllte den Mund. Sie grub tiefer, durchstieß eine Schicht aus Kastanienreis, erreichte die dunkle Kuchenmasse und hielt erst inne, als ein heißer Strom flüssiger Schokolade, durchsetzt mit dunkel glühenden Rumkirschen, ans Licht trat, sich träge den Weg talwärts bahnte und in ein sanftes Meer aus Erdbeerschaum und Schokoladensplittern mündete. Innige Gier ließ sie löffeln, bis alles verzehrt war. Alles? Nein! Da galt es noch einen Hauch von Zimt mit der Fingerkuppe aufzunehmen. Sie züngelte, leckte, schluckte und wusste: Zimt passte eigentlich nicht so recht dazu, doch diese kulinarische Sünde nahm der Konditor nur ihretwegen auf sich. So teilten die beiden ein kleines Geheimnis. Jetzt aber einkaufen! Einen sehr, sehr langen Schal, um ihre Langeweile einzuwickeln, und eine Decke aus zärtlichem Ziegenhaar, sollte es wieder einmal kalt werden neben ihrem Mann. Nein, er wollte das nicht, ließ es aber geschehen, weil er nichts davon wusste. Dann noch Wunderkerzen und Lichterketten, damit der Advent so richtig leuchtete und funkelte und sprühte. Nicht zu vergessen bunte, gläserne Engel für die Fenster, und ein Mistelzweig für die Haustür, sollte ja doch jemand auf die Idee kommen, sie zu küssen. [...]
Ringsum löschten die Buden allmählich ihre Lichter. Höchste Zeit, auch noch einen Adventkranz zu kaufen. Als sie wieder vor dem Haus stand, das ihm und ihr gehörte, oder ihr und ihm, wer wusste das schon, waren alle Fenster dunkel. Sie trat leise ein, stellte Schachteln und Taschen in die Besenkammer, wo schon sehr viele Schachteln und Taschen standen, und schloss dann im ersten Stock die Tür hinter sich. Die beiden hatten ge- trennte Schlafzimmer, weil er schnarchte und sie lange wach blieb. Das lag an diesen amerikanischen Fernsehserien, voller Ideen, die sie gerne selbst gehabt hätte. [...]
Als sie aufwachte, war es Abend. Es war sehr still im Haus. Nur von draußen kam ein leises Geräusch. Ach ja, Regen. Und das im Dezember. Sie schloss die Augen. Alles war so einfach gewesen, so geordnet und sauber getrennt. Freundliche, friedliche Nachbarschaft, gemeinsame Interessen, der sorgsam eingeübte Umgang mit Konflikten. Und jetzt? Sie hörte Schritte vor der Tür, zaghaftes Klopfen, wollte ihn aber noch nicht sehen. Vielleicht später dann, in der Küche. Das Wort „Begegnungszone“ kam ihr in den Sinn. Sie grinste, drehte sich auf die andere Seite und beschloss, noch ein Weilchen zu schlafen. „Guten Morgen, spät, aber doch!“
Er schaute nachdenklich drein. „Ich habe wenig geschlafen und viel gegrübelt. Ist ja kein Wunder.“ „Und?“ „Du hast so wenig von mir.“ Sie schwieg und hob kaum merklich die Schultern. „Du könntest zum Beispiel meine Einsamkeit haben: dunkelroter Samt, mit Goldfäden durchwirkt. Liegt ernst und schwer auf dir, lässt aber auch nichts durch, hält alles ab.“ „Gut. Ich biete meine Einsamkeit zum Tausch: fadenscheinige Konfektionsware. Wer sie anzieht, ist nackt. Wer sich mit ihr zudeckt, friert. Das hält frisch.“ „Also ich weiß nicht recht. Doch, ja: eine Idee. Wir legen die zwei Einsamkeiten auf den Küchentisch und lassen sie ungestört. Vielleicht geschieht ja irgendwann irgendwas zwischen den beiden.“ „Ja. Vielleicht.“ Sie mieden also die Küche in den folgenden Tagen, auch das Wohnzimmer, weil dort der Adventkranz allmählich fromm und gebieterisch über sich hinauswuchs, ein grünes, kerzenflackerndes Menetekel.
Sie war also wieder häufig in der kleinen Stadt unterwegs, versuchte aber nicht zu übertreiben, ihm zuliebe. Er bewohnte nach wie vor sein geräumiges Inneres, ließ aber die Tür einen Spaltbreit offen, ihr zuliebe. Eines Tages geschah es im staunenswerten Einklang der Gedanken und Gefühle, dass sie einander besuchen wollten. Er ging aus sich heraus, um sie in ihrer Welt zu finden, sie hingegen schaute sich in ihm um. Auf diese Weise verfehlten sie einander, blieben allein und hatten wohl wieder etwas falsch gemacht. Endlich trafen sie in der offenen Tür zusammen, lachten und beschlossen, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie stieß mit der Faust gegen seine Brust. „Wohin jetzt mit uns?“ „Komm mit mir!“ Im Garten hinter dem Haus stand ein alter Holzverschlag, das geheime Versteck ihrer Kindertage. Dort ließ es sich gut Ränke schmieden. Eng und finster war es hier. Er spürte sie, sie spürte ihn. Sie fröstelte wohlig. „Wird wohl nichts mit dem Weihnachtswunder, wie?“ „Wer weiß das schon? Ist ja erst morgen Abend so weit.“ „Was soll da geschehen?“ „Wir könnten versuchen, heute Nacht davon zu träumen.“ „Und was bleibt? Morgen früh, nach dem Aufwachen, meine ich.“ „Das musst du die Träume fragen.“
Alfred Komareks Weihnachtsgeschichten
In diesen Geschichten erzählen ungewöhnliche Figuren aus ungewohnten Perspektiven und machen fantastische neue Beobachtungen.
Alfred Komarek: Weihnachtsgeschichten von Alfred Komarek. Mit Illustrationen von Eva Kellner. Haymon 2020, 176 Seiten, € 17,90.
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Birgit Kubik, 268. Turmeremitin, berichtet von ihren Erfahrungen in der Türmerstube im Mariendom Linz. >>
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