Seit 22 Jahren leitet sie das L´Orfeo Barockorchester und bekommt Post an „Herrn Michi Gaigg“. Warum Bachs h-Moll-Messe eine Offenbarung für die Dirigentin war, erzählt Michi Gaigg im Interview.
Ausgabe: 2018/10
07.03.2018 - Das Gespräch führte Elisabeth Leitner
Bachs h-Moll-Messe wurde im 19. Jahrhundert als größtes musikalische Kunstwerk aller Zeiten bezeichnet. Was bedeutet dieses Werk für Sie? Michi Gaigg: Es ist eines der größten Musikschöpfungen aller Zeiten, ein unbeschreibliches Werk. Als ich als junge Geigerin die h-Moll-Messe spielen durfte, war das für mich eine Offenbarung: Ich habe bis dahin nicht über Glaube nachgedacht, das war nie Thema in der Familie. Aber spätestens nach diesem Werk habe ich gewusst, dass ich einen ganz tiefen Glauben habe. Als Musiker sagt man ja, man glaubt an den lieben Gott und an Bach. Spätestens wenn man diese Musik hört, glaubt man an den lieben Gott, denn ohne den lieben Gott könnte es soetwas nicht geben. Für mich ist es die höchste und erfüllendste Form von Spiritualität.
Am 18. März sind Sie mit Bachs h-Moll-Messe im Brucknerhaus zu Gast. Macht es für Sie einen Unterschied, ob man die Messe in einem Sakralraum oder in einem Konzerthaus aufführt? Gaigg: Natürlich gibt es einen Unterschied. In einem sakralen Raum ist es ganz was Besonderes. Wir werden das Werk aber so aufführen, als wären wir in einem Sakralraum. Es wird trotzdem diese Würde zu spüren sein, wir bemühen uns sehr darum.
Sie haben im Jahr 2013 in einem Interview mit der KirchenZeitung davon gesprochen, dass eine eigene Konzertreihe im Brucknerhaus schön wäre. Wie steht es darum? Gaigg: Das wird wohl nichts mehr, doch jetzt sind wir einige Male eingeladen. Unter der neuen Leitung von Dietmar Kerschbaum gibt es mehrere Auftrittsmöglichkeiten.
Wie anerkannt ist Barockmusik im Konzertbetrieb? Ist das noch immer etwas Exotisches? Gaigg: Heute ist es nicht mehr exotisch, sondern Normalität geworden. Es ist sogar ein neuer Boom zu erkennen. Trotzdem: In Österreich, im eigenen Land haben wir es schwer, denn geförderte Ensembles aus dem Ausland werden den heimischen Ensembles oft vorgezogen.
In Freiburg gibt es ein eigenes Konzerthaus für Barockmusik und breite Förderung. Wie sieht das in Österreich aus? Gaigg: Das Konzerthaus für Barockmusik in Freiburg wird sehr gefördert. – In Oberösterreich erhalten wir eine Unterstützung von Stadt und Land. Trotz großer internationaler Konzerttätigkeit bekommen wir seit zwei Jahren keine Förderung vom Bund mehr.
Man trifft Sie mehrmals jährlich im Linzer Priesterseminar. Warum? Gaigg: Wir proben immer im Priesterseminar gegen eine kleine Saalmiete. Das ist sehr schön dort und wir sind unendlich dankbar dafür. Wir haben keinen eigenen Probenraum. Wenn wir das im Priesterseminar nicht mehr hätten, würde es eng. Regens Johann Hintermaier hat uns immer unterstützt. Er freut sich immer, wenn wir kommen, weil er Musik liebt. Ich hoffe, sein Nachfolger liebt auch Musik?
Sie sind Leiterin eines Ensembles und Dirigentin. Im männlich dominierten Musikgeschäft sind Frauen selten am Pult anzutreffen. Welche Erfahrungen haben Sie? Mussten Sie kämpfen? Gaigg: Ich habe nichts zu kämpfen gehabt, ich habe aus der Not eine Tugend gemacht. Als Geigerin muss man sehr souverän sein, um gleichzeitig zu spielen und ein Orchester zu leiten, das kostet viel Kraft. So hat sich das dann entwickelt, ich bin ans Dirigentenpult gewechselt. Am wichtigsten ist es, eine gemeinsame Geste, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Ich finde es ganz toll, dass das Radio Symphonieorchester mit Marin Alsop ab 2019 eine Dirigentin hat. – Ich habe es im Ausland leichter als im eigenen Land. Als Mann hat man schon mehr Chancen – vor zehn Jahren hab ich das noch nicht so gesehen. Es ist mir nicht nur einmal passiert, dass wir ein Engagement bekommen haben und dann vom Veranstalter gesagt wurde: „Aber dirigieren und leiten soll bitte jemand anderer.“ Wenn ein Veranstalter das macht, finde ich das anmaßend.
Übergriffe an Frauen: Die „MeToo“-Debatte ist im Musikgeschäft angekommen, etwa bei den Tiroler Festspielen Erl und der Kritik an Leiter Gustav Kuhn. Was sagen Sie ganz allgemein dazu? Gaigg: Ich glaube, es gibt keinen Bereich, in dem das nicht so ist. Ich bin jetzt mit 60 Jahren schon zu alt dafür. Ich hab das aber als junge Frau erlebt. Die Situationen waren da, sie waren nicht lustig.
Ein Orchester leiten: Wie geht das, wie legen Sie das an? Gaigg: Das L’Orfeo Barockorchester gibt es jetzt seit 22 Jahren. Es hat fünf Jahre gedauert, bis sich herauskristalliert hat, welche menschliche Form das Orchester haben wird. Es ist schon so: Wenn jemand nur gut spielt, reicht das nicht. Es muss auch menschlich passen. Es ist klar, dass man als Dirigentin mit dem Kapital arbeitet, das man vorfindet, und nicht nur seine eigenen Ideen überstülpt.
Sie nennen sich Michi Gaigg. Jetzt ist zum Beispiel unvorstellbar, dass man „Franzi“ Welser-Möst sagt. Warum aber „Michi“? Gaigg: Ich war mein ganzes Leben die „Michi“. Ich hab das dann mit 30 Jahren zu ändern versucht und mich Michaela genannt, aber das bin ich nicht. Ich hab das wieder gelassen. Der Preis dafür ist, dass ich jetzt Post an Herrn Michi Gaigg bekomme, aber damit kann ich leben. «
Zur Künstlerin
Michi Gaigg wurde in Schörfling am Attersee geboren. Entscheidende Impulse für ihren musikalischen Werdegang erhielt die Musikerin während ihres Violinstudiums am Salzburger Mozarteum durch die Begegnung mit Nikolaus Harnoncourt. Anschließend studierte Michi Gaigg Barockvioline bei Ingrid Seifert und Sigiswald Kuijken. Nach vielen Jahren im Ausland mit Stationen in London, Den Haag, München, Köln, Straßburg und Tübingen kehrte sie nach Österreich zurück. Gemeinsam mit der Oboistin und Blockflötistin Carin van Heerden gründete Michi Gaigg 1996 das L’Orfeo Barockorchester. Unter ihrer Leitung feiert der Klangkörper international Erfolge und wurde für seine CD-Produktionen mehrfach ausgezeichnet. Einen Schwerpunkt der künstlerischen Arbeit von Michi Gaigg bilden Oper und Oratorium des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Michi Gaigg ist Intendantin der donauFESTWOCHEN im Strudengau und wurde durch das Land Oberösterreich mit dem Großen Bühnenkunstpreis und der Kulturmedaille ausgezeichnet. 2016 erhielt sie den Heinrich-Gleißner-Preis.
Konzertkarten zu gewinnen für 18. März 2018 im Brucknerhaus Linz. Die KiZ verlost 3 x 2 Karten. Schreiben Sie bis 13. März an: gewinnen[at]kirchenzeitung.at bzw. an KirchenZeitung, Kennwort: Bach im Brucknerhaus, Kapuzinerstraße 84, 4020 Linz.
Weitere Konzerte mit dem L´Orfeo Barockorchester. Sämtliche Schubertsinfonien werden in Hohenems bei der Schubertiade ab 2. Mai 2018 zu hören sein. Mozart-Arien und Ouvertüren mit Tenor Daniel Behle werden am 8. Juni im Steinernen Saal des Linzer Landhauses im Rahmen der Schlosskonzerte erklingen. Bei den Donaufestwochen in Grein wird ab 4. August die Händel-Oper „Atalanta“ auf dem Programm stehen.