Der Jesuitenpater Christian Herwartz aus Berlin bietet in Deutschland und der Schweiz außergewöhnliche „Exerzitien auf der Straße“ an. Sie laden ein, Gott an unterschiedlichen Orten und Plätzen zu entdecken, loszulassen und die Welt und die Menschen von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten.
Intuitiv wusste Karl genau, wo er hingehen musste. Den Diakon aus Köln zog es in die Frauenklinik, hinein in die Frühgeburtenabteilung, wo der Zugang eigentlich verboten ist. Er ging weiter in die Geburtenabteilung und blieb vor dem Fenster, hinter welchem die Neugeborenen in ihren Bettchen liegen, stehen. Dort hat er eine Stunde lang geweint. Eine Bewegung war spürbar und er hat seinen Gefühlen freien Lauf gelassen.
Frieden finden. Als Karl am Abend mit Pater Herwartz im Exerzitienhaus in Berlin-Kreuzberg sprach, sagte er, da müsse er morgen noch einmal hin. „Ich will sehen, ob das Baby, das vorne am Fenster lag, morgen noch immer da ist.“ Am nächsten Tag in der Geburtenabteilung hat Karl diesem Baby alles Gute gewünscht. Danach ist es ihm besser gegangen und seine aufwühlenden Emotionen waren plötzlich vorbei. Beim Gespräch am Abend gab Pater Herwartz dem Diakon den Anstoß, er solle doch einmal aufschreiben, was er dem Baby gewünscht hat und solle diese Wünsche am nächsten Tag ans Brett heften, da, wo die Babybilder hängen. Das hat Karl dann auch gemacht. Zehn Minuten später stand er vor der Klinik und hat sich gefragt, wo er jetzt wohl hingehen soll. Es dauerte nicht lange, und er wusste, sein nächstes Ziel war das Gefängnis, vor das er sich stellte. Er sagte zu sich, „Ich war 18 Jahre Gefangener. Gefangener meiner selbst. Denn vor 18 Jahren ist unser Kind in der Ehe bei der Geburt gestorben.“ Als Diakon war es Karl danach nicht möglich, Kinder, die dasselbe Schicksal ereilte wie seinem Kind, zu beerdigen. Er lehnte stets ab, weil da immer noch dieser Schmerz in ihm war. Nachdem der Diakon seine Exerzitien beendet hatte und einige Zeit vergangen war, schrieb er an Pater Herwartz folgende Zeilen: „Vor kurzem war es mir möglich, ein Baby zu beerdigen, das bei der Geburt gestorben ist. Jetzt bin ich im Frieden“.
Ursprung der Exerzitien. So wie Karl begeben sich viele Menschen bei den „Exerzitien auf der Straße“ auf die Suche, Gott an verschiedenen Orten zu begegnen und zu spüren, Heilung zu erfahren. Dabei werden sehr oft Orte ausgewählt, von denen die Exerzitienteilnehmer/innen innerlich bewegt werden. Etwa, wie im Fall von Karl, eine Klinik oder ein Gefängnis, oder Plätze in der Nähe von Drogenabhängigen und Obdachlosen. Bei den Exerzitien handelt es sich um „ein Gehen an den Ursprung der Exerzitien von Ignatius von Loyola, ohne dass die Leute das unbedingt wissen“, sagt der Jesuit Christian Herwartz. „Ignatius hat ja auch bettelnd auf der Straße gelebt und ein dreiviertel Jahr als Einsiedler in der spanischen Stadt Manresa verbracht. Er hat nach und nach entdeckt, was da mit ihm passiert. Daraus ist das Exerzitienbuch entstanden. Vielen ist nicht bekannt, dass Armut im Evangelium immer ein Kriterium ist, sich Gott zu nähern“, erläutert der Jesuitenpater.
Brennender Dornbusch. Als Leitbild für die Meditation hat sich für Pater Herwartz die Geschichte von Moses und dem brennenden Dornbusch als besonders hilfreich herauskristallisiert. „Als Moses mit seinen Schafen bei der Arbeit in die Wüste zog und plötzlich einen brennenden Dornbusch sah, der nicht verbrannte, wollte er ihn genauer betrachten. Das sind die Impulse, die wir bei den Exerzitien geben: Das genauer wissen wollen, wo man berührt wird, wo man etwas spürt und sieht, was vielleicht jeden Tag passiert, aber was uns stutzig macht“, erklärt der Pater. Auf dem Weg zum Dornbusch hat Moses gespürt, jetzt muss er stehen bleiben. Gott rief ihm zu: „Komm nicht näher! Leg deine Schuhe ab, denn der Ort wo du stehst ist heiliger Boden“. Gott gibt Moses zu verstehen, „zieh die Schuhe aus, ich will mit dir reden. Jene Distanz, welche die Schuhe bilden, tue weg. Diesen Rat geben wir den Menschen mit, die zu uns kommen. Wir sagen, geht durch die Straßen oder irgendwohin, wo ihr meint, dass ihr gehen sollt und wenn ihr merkt, dass ihr hellhörig werdet, dann haltet an, geht vielleicht näher oder einen Schritt zurück, wartet und zieht die Schuhe aus. Denn wenn ihr z. B. in einer Suppenküche steht ohne Schuhe, ist die Distanz weg. Oder wenn ihr in einer Psychiatrie barfuß geht, seid ihr keine Gefahr mehr. Schuhe ausziehen ist eine große Hilfe, loszulassen. Das ist bei der Meditation ganz wichtig, damit ich sehen kann. Dann wird mit der Meditation begonnen und das Gebet gesucht“, erläutert der Arbeiterpriester.
Hinsehen. Als Einstieg in die Exerzitien üben die Teilnehmer/innen zu Beginn der Kurse respektvolles Sehen und Hören. Sie werden gebeten, sich z. B. an die Traurigkeit oder die Wut, den Ärger oder den Schmerz zu erinnern, welche oder welcher in ihnen häufig hochkommt und da ist. Die Bibelstelle vom brennenden Dornbusch zeigt auf, dass Moses etwas gehört hat, was er längst wusste, nämlich dass sein Volk unterdrückt wurde. „In den Exerzitien geht es nicht um die ganz großen Erkenntnisse, sondern darum zu sehen, was bereits ist. Die Menschen ergreifen die Chance, einmal nicht zu kneifen, sondern hinzusehen. Wenn ich aus der Sicht des anderen versuche zu gucken, z. B. aus der Sicht von Gefangenen oder Kranken, oder wenn ich mich zu einem Obdachlosen auf die Bank setze und die Welt von seiner Warte aus betrachte, auch wenn ich nicht mit ihm spreche, dann verändert sich etwas. So kann z. B. hinterher rauskommen, dass ich Angst habe vor eigener Obdachlosigkeit. Diese Angst wird dadurch geheilt. Das ist immer der erste Schritt in Exerzitien, dass es zur Heilung kommt mitten in unserer Öffentlichkeit. Diese Prozesse treten ein, ohne dass wir so genau wissen, wie“, so der Geistliche. Das „Hinsehen“ kann nach den Exerzitien weitergehen. Nur an einem anderen Ort und mit der Chance des anderen Ortes. „Wenn man sich auf Störungen oder Sperren im Alltag einlässt und sie zulässt ohne zielgerichtet zu sein, dann ist z. B. ein Bettler keine Störung mehr, sondern jemand, der mich vielleicht auch einlädt zu einem anderen Handeln. Es geht darum, mit den Augen Gottes oder mit den Augen des Nächsten sehen zu lernen und dadruch etwas zu erfahren“, sagt der Jesuit.
ZUR SACHE
Straßenexerzitien
„Wir haben nie daran gedacht, eine bestimmte Form von Exerzitien zu entwickeln“, erzählt Pater Christian Herwartz, „die Menschen sind einfach gekommen und wollten gerne in unserer Wohngemeinschaft von drei Jesuiten und anderen Bewohnern in Berlin-Kreuzberg Exerzitien machen“. Begonnen hat alles Mitte der 90er Jahre, als ein junger Jesuit gegen Ende seines Studiums in die Kommunität in Berlin kam und fragte, ob er seine jährlichen Exerzitien hier abhalten könnte, um sich darüber klar zu werden, wie sein Weg weiter-gehen werde. „Ich war überrascht und sträubte mich vorerst dagegen, machte ihm klar, dass wir keine Kapelle haben und wir hier nicht schweigen. Doch er ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Ich dachte mir, gut, wenn er das will, solle er kommen“. Daraufhin ist der junge Jesuit auf die Straße gegangen, tagelang. „Ich habe abends mit ihm gesprochen, wie das so üblich ist bei Exerzitien, und er erzählte, in einem Moment, als er auf dem Weg zur Kirche an einem Bettler vorbeiging, waren alle seine Fragen geklärt“, erzählt Pater Herwartz, der weiter erklärt: „Wir können nicht planen, wie, wo oder wann uns Gott anspricht. Dies geschieht überraschend. Die Exerzitien sind eine privilegierte Zeit, diese Impulse wahrzunehmen und ihnen nachzugehen“. Jährlich werden mehrere Exerzitienkurse mit jeweils fünf bis acht Leuten in Städten Deutschlands und der Schweiz angeboten.
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ZUR PERSON
Der Jesuitenpater Christian Herwartz
Der Jesuitenpater Christian Herwartz hat in München und Frankfurt am Main Philosophie und Theologie studiert. Es folgten drei Jahre in Frankreich, wo er in einer Gemeinschaft mit Arbeiterpriestern und Jesuiten lebte. In dieser Zeit arbeitete der deutsche Pater als Lkw-Fahrer, Pressenführer und Dreher. 1978 ging er nach Berlin, wo er mit anderen Geistlichen eine kleine Gemeinschaft von Jesuiten in Berlin-Kreuzberg gründete. Neben seiner Tätigkeit als Arbeiterpriester war er u. a. als Lagerarbeiter beschäftigt. Mittlerweile ist Pater Herwartz in Rente. Er lebt nach wie vor in der Gemeinschaft in Berlin-Kreuzberg, zusammen mit weiteren 20 Bewohnern, darunter ehemals Obdachlose. Er begleitet Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und bietet Exerzitienkurse auf der Straße an. Wie sich diese Kurse entwickelt haben, beschreibt er in seinem Buch „Auf nackten Sohlen“.
Christian Herwartz: „Auf nackten Sohlen“. Echter Verlag, 7,90 Euro.