Viele reagieren allergisch auf die Forderung Jesu, dem, der uns verletzt hat, zu vergeben. Petrus dachte, er sei schon großzügig, wenn er siebenmal vergeben würde. Doch Jesus fordert von ihm unbegrenzte Vergebung. (Mt 18,22)
Warum fällt uns die Vergebung so schwer? Oft verstehen wir Vergebung falsch. Wir meinen, sie sei ein Nachgeben oder ein Akt der Schwäche. Doch in Wirklichkeit ist Vergebung ein Akt der Stärke und der Befreiung. Wer nicht vergeben kann, ist noch an den gebunden, der ihn verletzt hat. Er lässt sich noch von ihm bestimmen. Es sind fünf Schritte, die wir gehen müssen, damit Vergebung und Versöhnung gelingen.
Den Schmerz zulassen
Der erste Schritt besteht darin, den Schmerz nochmals zuzulassen. Wir sollen den, der uns verletzt hat, nicht sofort entschuldigen: „Vielleicht hat er es nicht so gemeint. Vielleicht konnte er nicht anders.“ Ganz gleich, wie der andere es gemeint hat, mir hat es wehgetan. Und es tut mir immer noch weh.
Die Wut zulassen
Der zweite Schritt ist: die Wut zulassen. Die Wut ist die Kraft, den, der mich verletzt, aus mir heraus zu werfen. Wut schafft eine gesunde Distanz zum andern. Solange das Messer noch in meiner Wunde steckt, kann ich nicht vergeben. Da wäre Vergebung nur Selbstverletzung. Ich muss das Messer erst heraus werfen, damit die Wunde zu heilen vermag.
Objektiv anschauen
Beim dritten Schritt versuche ich, objektiv anzuschauen, was geschehen ist. Ich versuche, zu verstehen, warum der andere mich verletzt hat und warum es mich so tief getroffen hat. Wenn ich mich und den andern verstehe, kann ich die Verletzungen leichter loslassen.
Befreit durch Vergebung
Erst an vierter Stelle kommt dann der eigentliche Akt der Vergebung. In der Vergebung befreie ich mich von der Bindung an den andern. Ich lasse das Geschehen bei ihm. Ich gebe es weg. Manche werden nicht gesund, weil sie nicht vergeben. Andere können nicht in Frieden sterben, weil sie noch nicht vergeben haben. Vergebung ist ein therapeutischer Akt. Er tut mir gut. Er befreit mich vom negativen Einfluss derer, die mich verletzt haben. Ich denke nicht mehr über sie nach. Ich lasse ihr Verhalten bei ihnen. Das heißt noch nicht, dass ich dem andern gleich um den Hals fallen muss. Manchmal muss ich meine Grenze achten und mir eingestehen, dass ich seine Nähe noch nicht ertragen kann. Trotzdem habe ich ihm vergeben.
In Perlen verwandeln
Der fünfte Schritt wäre dann die Kunst, die Wunden zu Perlen zu verwandeln. Wenn ich nur die ersten vier Schritte gehen müsste, hätte ich immer das Gefühl, ich sei benachteiligt mit meinen Verletzungen. Der fünfte Schritt zeigt mir, dass in den Verletzungen auch eine Chance liegt, dass sie mich eine kostbare Erfahrung gelehrt haben. Die Wunden sind der Ort, an denen ich Gott und mein wahres Wesen auf neue Weise erkenne.
Übung
Versöhnung mit Bruder und Schwester
Die fünf Schritte der Versöhnung kann man nicht immer genau der Reihe nach üben. Aber versuche bei den Kränkungen, die dir immer noch wehtun, bewusst einmal die Reihenfolge dieser fünf Schritte einzuhalten.
Lasse dir für jeden Schritt einige Augenblicke Zeit. Vielleicht spürst du gar keinen Schmerz oder keine Wut. Du musst dich nicht zu den Gefühlen zwingen. Horche in dich hinein, ob diese Gefühle in dir auftauchen. Und dann versuche, das Geschehene bewusst beim andern zu lassen. Verwandle deine Wut in Ehrgeiz, selber zu leben und dich selbst zu spüren. Je mehr du dich selbst spürst, desto weniger haben andere Macht über dich.