Eva Mozes Kor hat als kleines Mädchen das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Sie hat ihren Peinigern vergeben. Wie sie das geschafft hat, beschreibt sie in ihrem Buch. Ein Gespräch über den SS-Arzt Hans Münch, einen wichtigen Brief und warum sie in Auschwitz getanzt hat.
Ausgabe: 2017/12
21.03.2017 - Interview und Übersetzung: Christine Grüll
Frau Kor, in Ihrem Buch sprechen Sie über Vergebung, die die eigene Seele heilt. Was ist Ihre zentrale Botschaft?Eva Kor: Vergeben hilft dem Opfer, weil es nicht vergessen kann, was ihm zugestoßen ist. Es ist ein Teil der eigenen Persönlichkeit. Jeder Mensch hat das Recht, davon befreit zu sein, was ihm angetan wurde. Nur die Opfer selbst können sich davon befreien. Alle Opfer, egal wie groß oder klein das ist, was sie erleiden mussten, fühlen sich verletzt, hilflos und machtlos. Ich kann das, was mir passiert ist, nicht ändern. Aber es ist ein großartiges Gefühl zu erkennen, dass man eine Macht hat: die Macht der Vergebung. Ich hatte die Macht zu sagen: „Trotz all des Elends, das ihr Nazis mir angetan habt, vergebe ich euch.“ Das hat mich stärker gemacht. Es ist wichtig, in welcher Weise diese Macht genützt wird. Denn sie verletzt niemanden. Ich wollte nicht durch Gewalt weitere Opfer schaffen. Wir wurden im Konzentrationslager schlechter behandelt als Tiere. Irgendwie haben wir das überlebt. Aber ich konnte nicht davor weglaufen.
Noch in den 1980er Jahren habe ich mich gefragt, ob das wirklich passiert ist, weil niemand darüber gesprochen hat. Deshalb musste ich nach Auschwitz, um meine Kindheitserinnerungen zu überprüfen. Ich habe ein kleines Stück Beton von der Selektionsplattform gefunden. Meine Erinnerungen waren also richtig. Aber der Schmerz war immer noch da. Die Macht der Vergebung hat ihn schließlich von mir genommen.
Sie haben sogar den SS-Ärzten Hans Münch und Josef Mengele vergeben. Wie schaffen Sie das?Kor: Ich weiß es nicht. Ich habe mich oft gefragt, wie es zu der ganzen Situation mit dem Nazi-Arzt Doktor Münch gekommen ist. Er war bereit, mich in seinem Haus in Deutschland zu treffen. Eine unglaubliche Sache. Er war bei den Gaskammern in Auschwitz stationiert und ich konnte ihn dazu befragen. Er ist mit mir nach Auschwitz gekommen und hat ein Dokument unterschrieben. Denn wenn ich jemals wieder einen Revisionisten treffen sollte, der sagt, Auschwitz ist nie passiert und Gaskammern hat es nicht gegeben, dann kann ich ihm das Dokument zeigen.
Ich wollte Doktor Münch dafür danken und habe darüber nachgedacht, wie ich einem Nazi danken kann. Nach zehn Monaten hatte ich plötzlich eine Idee: Ich habe ihm einen Brief geschickt. Der Gedanke ist entstanden, weil ich ihm vergeben wollte. Die anderen Überlebenden haben mich mit allem Möglichen beschuldigt. Dabei sollten sie mir danken, dass ich einen Nazi so weit gebracht habe, einen Augenzeugenbericht über die Gaskammern zu unterzeichnen.
Sie waren oft in Auschwitz und haben einmal auf der Selektionsrampe, wo Sie Ihre Familie zuletzt gesehen haben, die traditionelle rumänische Hora getanzt. Warum war Ihnen das wichtig?Kor: Auf der Selektionsplattform haben mir die Nazis die Lebensfreude genommen. Ich wollte sie mir an diesem Ort zurückholen. Deshalb habe ich beschlossen, die Hora zu tanzen.
Hat es funktioniert?Kor: Ich bin jetzt ein sehr glücklicher Mensch und eine unverbesserliche Optimistin!
Sie sprechen oft mit jungen Menschen. Was möchten Sie ihnen mitgeben?Kor: Junge Menschen denken, sie wären die Einzigen, die Schwierigkeiten haben. Ich erinnere mich, dass das Erwachsenwerden sehr hart ist. Sie wissen nicht, welchen Platz sie in dieser großen Welt einnehmen werden. Sie sind besorgt und ängstlich. Ich sage ihnen, sie sollen nicht ängstlich sein und nicht aufgeben, bis sie erkennen, welchen Beitrag sie für diese Welt leisten können. Aber wenn sie aufgeben, wird nichts passieren. Wenn ich nicht versucht hätte, in Auschwitz zu überleben, wäre ich nicht hier. Ich hätte mit 14 oder mit 18 Jahren niemals gedacht, dass es jemanden einmal interessieren würde, was ich zu sagen habe.
Warum wollten Sie das Buch schreiben? Kor: Weil ich etwas tun wollte, um der Welt mit ihren Problemen zu helfen. Etwas, das sich jeder leisten kann und das frei verfügbar ist. Für das Vergeben brauchst du keine Erlaubnis, von niemandem. Du kannst vergeben, um dir selbst und deinen Mitmenschen Gutes zu tun. Es gibt einen Unterschied zwischen Vergebung und Versöhnung: Für Versöhnung braucht es zwei Menschen, und das funktioniert oft nicht. Aber um zu vergeben, brauchst du keinen anderen als dich selbst.
Es würde mir nicht gut tun, wenn Menschen weiterhin kämpfen und einander hassen würden. Deshalb ist Vergebung auf eine Art selbstsüchtig, weil ich Frieden will. Vergeben ist das größte Geschenk, das ich geben konnte. Ich kann nichts tun, um die Vergangenheit zu ändern. Ich kann nur die Zukunft verändern.
Zum Buch
Vergib und sei frei
Eva Mozes Kor erzählt in ihrem Buch von ihrem Lebensweg, vom Opfersein und dem Willen, sich daraus zu befreien. Eine Empfehlung.
Eva Mozes Kor war zehn Jahre alt, als sie mit ihrer jüdischen Familie von Portz im heutigen Rumänien in das Konzentrationslager Auschwitz in Polen verschleppt wurde. Auf der Selektionsrampe wurde sie von ihrer Familie getrennt. Ihre Eltern und zwei Schwestern wurden ermordet. Eva Kor und ihre Schwester Miriam wurden vom KZ-Arzt Josef Mengele bei Experimenten für die Zwillingsforschung mit Krankheiten infiziert. Einige Jahre nach der Befreiung gingen die Schwestern nach Israel. Später zog Eva Kor mit ihrem Mann in die USA. In Terre Haute, Indiana, hat sie das CANDLES Holocaust Museum ins Leben gerufen. Auch in Erinnerung an ihre Schwester. Miriam hatte schwere Nierenprobleme. Eva Kor wollte herausfinden, was ihr bei den Experimenten von Dr. Mengele gespritzt worden war. Die Unterlagen wurden damals nicht vernichtet, doch sie wurden bis heute nicht gefunden. Miriam starb 1993 an Nierenkrebs.
Weg der Vergebung
Eva Kor nahm Kontakt mit dem früheren SS-Arzt Hans Münch auf. Er erzählte ihr von seinem Dienst bei den Gaskammern in Auschwitz. Von Überlebenden erfuhr sie, dass Münch ihnen gegenüber nicht als der „Übermensch“ aufgetreten sei wie andere SS-Soldaten. Eva Kor konnte ihn davon überzeugen, mit ihr nach Auschwitz zu kommen und in einem Dokument zu bezeugen, dass die Gaskammern tatsächlich existiert hatten. Es sollte ein Beweis gegenüber Leugnern der Gaskammern sein. Zum Dank schrieb Eva Kor ihm einen Brief. Seine Scham und seine glaubhafte Reue waren der Auslöser für sie, ihm und in weiterer Folge allen Nazis zu vergeben – eine bei Überlebenden umstrittene Geste.
Die Botschaft
In ihrem Buch erzählt Eva Kor leidenschaftlich und sehr persönlich von ihrem Lebensweg, ihrem Trauma und davon, dass zu vergeben die einzige Möglichkeit sei, aus der Opferrolle herauszufinden. Sie rät jenen, die körperlich oder seelisch zu Opfern gemacht wurden, sich den Schmerz in einem Brief von der Seele zu schreiben, den Tätern zu vergeben und den Brief nicht abzuschicken. Die Autorin beschreibt sehr eindrücklich, wie die menschliche Katastrophe des 20. Jahrhunderts bis heute nachwirkt. Eva Kor hat einen weiten Weg zurückgelegt. Das macht ihre Botschaft von der Macht des Vergebens so glaubwürdig.
Eva Mozes Kor, Die Macht des Vergebens, Benevento Verlag 2016, 235 Seiten, 24,– Euro.