Für den islamischen Theologen Mouhanad Khorchide ist Barmherzigkeit ganz zentral. Bei einem christlich-islamischen Gespräch zum Thema „Barmherzigkeit“ mit dem deutschen emeritierten Kurienkardinal Walter Kasper, das nun als Buch erscheint, wurde aufgezeigt, wie bedeutend der Begriff sowohl im Christentum als auch im Islam ist. Mouhanad Khorchide, der kürzlich bei einer Tagung zur Förderung des interreligiösen Dialogs im Bildungshaus St. Virgil in Salzburg zu Gast war, nimmt Stellung zur notwendigen Aufklärung im Islam.
Ausgabe: 2017/12
21.03.2017 - Interview führte Susanne Huber
Für Sie ist Barmherzigkeit eine zentrale Kategorie in der islamischen Lehre. Viele Menschen in Europa bringen den Islam aber eher mit Gewalt in Verbindung, gerade im Hinblick auf den IS-Terror. Wie kann das ausgeräumt werden?
Mouhanad Khorchide: Muslime müssen die Aspekte der Barmherzigkeit und des Friedens im Islam stärker und lauter nach außen kommunizieren und sich ganz klar vom Terror distanzieren, der uns alle betrifft und bedroht. Das heißt, wir müssen erst einmal aufklären und differenzieren, dass die Trennlinie nicht zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen verläuft, sondern zwischen friedlichen Menschen und Terroristen, zwischen menschenfreundlichen Auslegungen des Islam und menschenfeindlichen Auslegungen des Islam.
Wichtig wäre also eine kritische Koranexegese?
Khorchide: Ja. Wir müssen bestimmte Positionen kritisch hinterfragen, auf die sich Terroristen berufen, wenn sie religiös zu legitimieren versuchen, was sie tun. Es gibt im Koran Stellen, die Gewalt ansprechen. Die Frage ist: Wie geht man damit um? Das heißt, innerislamisch brauchen wir in der Theologie Reformen, einen Diskurs, ein Bewusstsein für die historische Einordnung des Korans im 7. Jahrhundert. Das können wir nicht eins zu eins im Wortlaut auf das 21. Jahrhundert übertragen.
Warum ist Ihnen das Thema „Barmherzigkeit“ so wichtig?
Khorchide: Einerseits weil der Koran die Barmherzigkeit sehr stark in den Vordergrund stellt. 113 der 114 Suren im Koran fangen an mit der Formel „Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen, des Allerbarmers“. Andererseits weil wir Muslime kaum kommunizieren, dass die Barmherzigkeit die
Eigenschaft Gottes ist, die am stärksten im Koran vorkommt. Ich wollte eine Botschaft richten an Muslime, aber auch an Nicht-Muslime, um daran zu erinnern, welchen zentralen Stellenwert die Barmherzigkeit in der islamischen Theologie und im Koran hat. Ein dritter Grund ist, dass wir heute in der Welt die Barmherzigkeit dringend brauchen – verstanden als bedingungslos da zu sein für unsere Mitmenschen.
Es geht also konkret um Taten ...
Khorchide: Es geht um Taten im Sinne von Verantwortung für seine Mitmenschen, für die Umwelt, für die nachkommenden Generationen. Die Nächstenliebe – dieses Liebes-Ethos im Islam wie im Christentum – ist der wichtigste Wert in beiden Religionen; aber in der Realität spiegelt sich das kaum wider. Es gibt in der islamischen Welt Probleme, die man offen ansprechen muss: fehlende Demokratie in den meisten islamischen Ländern, fehlende Umsetzung von Menschenrechten und von Gleichberechtigung der Geschlechter. Das widerspricht dem Konzept der Barmherzigkeit. Deshalb muss man mit viel Mut auch innerislamisch aufklären und sagen: Es gibt Baustellen, an denen wir noch arbeiten müssen. Religiosität sollte sich nicht auf Äußerlichkeiten und religiöse Rituale reduzieren. Sie muss sich im Handeln bezeugen durch den Einsatz für Gerechtigkeit, für demokratische Grundwerte, für Gleichheit, für Frieden. Da vermisse ich manchmal auch bei uns Muslimen den Einsatz dafür.
So gesehen ist der Begriff „Barmherzigkeit“ gar nicht so verstaubt, wie manche Menschen meinen. Gerade jetzt in dieser Zeit ist Barmherzigkeit ganz wesentlich ...
Khorchide: Es ist ein wichtiges Phänomen, man muss es nur in eine Sprache übersetzen, mit der heute alle etwas anfangen können, damit es nicht nur ein theologisches abstraktes Konzept bleibt. Zum Beispiel wenn wir von Gerechtigkeit sprechen, von Friedenschaffen in der Welt, vom Vermindern von Leid und von Hungersnot in der Welt, von besseren Arbeitsbedingungen für die Menschen, von Gleichberechtigung der Geschlechter – das alles sehe ich unter dem Oberbegriff Barmherzigkeit.
Sie sind für Ihre liberalen Positionen den Islam betreffend schon kritisiert worden. Das heißt, es braucht viel Mut und es ist schwierig, Ihre Islam-Interpretation in die Praxis umzusetzen ...
Khorchide: Definitiv. Heute schwimmt man gegen den Strom, wenn man versucht, innerislamisch aufzuklären. Aber man darf damit nicht aufhören. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, denn der Exklusivismus ist innerislamisch sehr stark vertreten im Sinne von: Gott ist nur den Muslimen gnädig und zugewandt und Muslime sind bessere Menschen als Nicht-Muslime. Solche Positionen müssen dringend kritisch hinterfragt werden, denn darin sehe ich ein großes Problem, gerade auch für ein friedliches Zusammenleben hier in einer pluralen Gesellschaft, weil ein Gefälle entsteht. Wir müssen uns alle auf Augenhöhe als Menschen begegnen, nicht als Muslime, Christen oder Atheisten. Die katholische Kirche hat sich im Zweiten Vatikanischen Konzil in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts vom Exklusivismus verabschiedet. Im Islam muss das nachgeholt werden. Das sind Prozesse. Ich persönlich bin froh, dass ich an einer wichtigen Schnittstelle arbeite: Ich bilde Religionslehrer in Deutschland aus; früher habe ich das auch in Österreich gemacht. Im Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster gibt es 850 Studierende. Jedes Jahr kommen 200 dazu. Sie sind alle Multiplikatoren in der Gesellschaft. Man gibt dieses offene Verständnis vom Islam an sie weiter und sie tragen das in die Gesellschaft hinaus. Das finde ich ganz wichtig.
Sie und Kardinal Walter Kasper veröffentlichten 2012 unabhängig voneinander zur gleichen Zeit ein Buch zum Thema „Barmherzigkeit“. Im September 2016 wurden sie beide zu einem islamisch-christlichen Gespräch über Barmherzigkeit eingeladen. Wie war diese Begegnung für Sie?
Khorchide: Es war für mich eine große Ehre, mit jemandem wie ihn über Barmherzigkeit zu sprechen. Wir haben uns menschlich wie inhaltlich sehr gut verstanden. Er hat wie ich ganz stark dieses Bild eines barmherzigen, empathischen Gottes. Wir haben beide gesagt, es ist ein Zeichen der Barmherzigkeit dieses gütigen Gottes, dass uns gerade dieses Thema zusammengebracht hat. Kardinal Walter Kasper war gut informiert auch über den Islam, er war sehr offen und zugleich kritisch. Er hat mich nicht verschont mit Fragen, warum man in der islamischen Welt so wenig sieht von Barmherzigkeit, von Freiheit, von Menschenrechten. Dieses Gespräch fand außerdem an meinem Geburtstag statt – für mich ein schönes Geschenk.
Welche Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christentum die Barmherzigkeit betreffend haben Sie im Gespräch mit Kardinal Kasper entdeckt?
Khorchide: Wir haben im Islam keine Trinität, im Islam hat sich Gott nicht in Jesus offenbart, sondern im Koran. Dennoch haben wir dasselbe Gottesbild. Es handelt sich um einen Gott, der sich auf die Menschen einlässt, der empathisch ist, dem das Wohlergehen des Menschen ein Anliegen ist. Die Barmherzigkeit Gottes im Leben umzusetzen und in die Welt zu tragen ist ein Handlungsauftrag an uns gläubige Menschen. Darüber waren wir uns einig. Und auch darüber, dass Barmherzigkeit in der Praxis leider zu wenig umgesetzt wird. «
- Buchtipp: „Gottes Erster Name. Ein islamisch-christliches Gespräch über Barmherzigkeit.“, von Walter Kardinal Kasper und Mouhanad Khorchide. Patmos Verlag 2017. Euro 12,99. Erscheint Ende März.