Den Selbstkritiker entthronen. Ein Ja zu sich selbst finden. Das ist wie ein
Zu-Hause-Ankommen. Gnadenlose Selbstkritik wäre Unglaube. Aus der Serie "Ich mit mir" von Sr. Melanie Wolfers, Teil 3 von 7.
Ausgabe: 2017/11
14.03.2017 - Sr. Melanie Wolfers SDS
Vor einiger Zeit musste ich ein schwieriges Gespräch führen. Bei einem kontroversen Punkt reagierte ich weder klug noch souverän. Kaum hatte ich den Raum verlassen, überschüttete ich mich mit Selbstvorwürfen: „Du Idiotin! Du lernst wohl nie, dein Temperament zu beherrschen. Mit dir ist einfach nichts anzufangen!“ Als mir deutlich wurde, in welchem Ausmaß ich mich beschimpfte, war ich von mir selbst befremdet. So scharf kritisiere ich niemanden – außer mich selbst. Als ich anderen davon erzählte, nickten sie verständnisvoll. Harsche Selbstkritik ist das Volksleiden Nummer 1.
Die meiste Selbstkritik kommt daher in abschätzigen Bewertungen. „War ja nicht anders zu erwarten!“, kommentiert der innere Nörgler jedes eigene Missgeschick. Und der Blick ins eigene Innere fällt ähnlich negativ aus, denn jeder und jede hat irgendetwas, was er an sich nicht ausstehen kann. Der eine findet sich zu durchsetzungsschwach, die andere zu selbstbewusst. Wieder andere erleben sich als zu still oder zu redselig. Woher kommt eine solche Geringschätzung oder gar Selbstverachtung? Warum sind wir Menschen uns selbst oft „ziemlich beste Feinde“?
Ein wichtiger Grund liegt in der gesellschaftlichen Atmosphäre. Der irrsinnige Druck der kapitalistischen Leistungsgesellschaft: „Optimiere dich, oder du bist raus!“ hat sämtliche Lebensbereiche geflutet. Es gilt, das Beste aus sich machen. Und weil es zu jedem Besten immer noch ein Besser gibt, schraubt sich das Ego-Tuning wie von selbst in die Höhe. Und zugleich nährt es das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, da man den überhöhten Erwartungen sich selbst gegenüber nicht gerecht geworden ist. „Ich bin nicht gut genug. Nicht schlank genug. Nicht selbstsicher genug“, flüstert es in einem und ein „Lebensgefühl des Mangels“ stellt sich ein.
Doch der an Optimierung geschulte Blick sieht eine Sache grundlegend falsch! Er übersieht: Grenzen und Schwächen sind keine ethischen Kategorien. Das heißt, bei ihnen handelt es sich nicht um Haltungen oder Verhaltensweisen, die sein sollen oder nicht sein sollen. Vielmehr sind sie Grundgegebenheiten unseres Daseins. Sie prägen das Leben eines jeden Menschen – sogar das eigene … Wer dies erkennt und in sein Selbstbild integriert, kann mit einem verständnisvolleren Blick auf sich selbst schauen.
ICH mit MIR im Gespräch
Der Vergleich mit einer zwischenmenschlichen Freundschaft hilft weiter: Da weiß jemand um meine Stärken und Schwächen, um meine Erfolge und Niederlagen – und mag mich so, wie ich bin. Auch wenn er oder sie nicht alles gutheißt, was ich getan habe. In der Gegenwart einer solchen Person lässt sich aufatmen. Es ist wie ein Zu-Hause-Ankommen.
Mit sich selbst befreundet sein angesichts der eigenen Mittelmäßigkeit und Begrenztheit funktioniert ganz ähnlich: Will ich Frieden schließen auch mit dem, was meinem Selbstbild widerspricht, mit meinen Grenzen und Schwächen?
Von Franz von Assisi wird eine vielsagende Geschichte überliefert: Ausdrücklich schreibt Franziskus in seinem Testament, der Anfang seiner Bekehrung sei gewesen, dass er einen Aussätzigen geküsst habe. Zuvor hatte Franziskus diesen Kranken gemieden und war vor ihm davongelaufen. Diese Szene lässt sich auch deuten als eine Flucht vor der eigenen Versehrtheit und Zerbrechlichkeit. Indem Franziskus den Aussätzigen umarmt, umarmt er auch sein eigenes Menschsein mit seinen Grenzen und mit seinem „Schatten“. Und in diesem Augenblick geht ihm die Kraft bedingungsloser göttlicher Liebe auf.
Aug‘ in Aug‘ mit Gott
Eine zentrale christliche Grunderfahrung liegt darin, dass das eigene Leben mit seinem Gelungenen und Zerbrochenen im Großen und Ganzen geborgen ist. Das Vertrauen, sich nicht perfektionieren zu müssen, um ein wertvoller Mensch zu sein, ist unsagbar befreiend. Ein solcher Glaube befreit von der quälenden Angst, nicht zu genügen. Also von jener Angst, die uns Menschen so schnell in gnadenlose Selbstüberforderung hineinmanövriert.
Aber leider herrscht auch in den Kirchen oft ein latenter Druck, permanent an sich arbeiten und sich verbessern zu müssen. Eine krankhafte Vorliebe für Ordnung und Fehlerfreiheit engt das Leben ein.
So rücken manche Gott in die Nähe eines einschüchternden Übervaters, dem sie es nie recht machen können. Um nicht anzuecken und keine Angriffsfläche zu bieten, versuchen sie, sich durch besondere Frömmigkeit oder moralische Leistung gegen das drohende himmlische Donnerwetter abzusichern.
Doch genau betrachtet sind das ständige Streben nach Selbstoptimierung und gnadenlose Selbstkritik eine Form von Atheismus. Von konkret gelebtem Unglauben. Denn in dem Maße, in dem wir versuchen, uns selbst zu vervollkommnen, sind wir nicht verbunden mit dem göttlichen Ja, das ohne Wenn und Aber, ohne Vorbehalt und Einschränkung gilt.
Die erlösende Kraft des Glaubens liegt darin, uns als bejaht zu bejahen. Diesem zuvorkommenden Ja Gottes mehr und mehr Glauben zu schenken, sind wir lebenslang eingeladen.
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