Man kann sich die Welt schön-essen. Doch diese Ersatzstrategie stillt die Sehnsucht nicht. Wie wir das Leben neu austarieren können. Teil 2 der Fastenserie mit Sr. Melanie Wolfers.
Ausgabe: 2017/10
07.03.2017 - Sr. Melanie Wolfers SDS
Im Job ist heute etwas nicht gut gelaufen. Unzufrieden steigt Stefan R. ins Auto, um sein Kind vom Sport abzuholen. Er gerät in einen Stau, und bis er die Turnhalle erreicht, hat sein Kind ihm bereits drei WhatsApp-Nachrichten geschickt: „Wo bleibst du denn?!“ Als Stefan zu Hause ankommt, springt der Hund begeistert an ihm hoch, denn die Runde durch den Park gehört zum Abendprogramm – nur stößt er in seiner Freude die Vase um. Na prima! Nach einem leicht angespannten Essen mit der Familie schaltet der mehrfache Familienvater den Fernseher an, „nur mal sehen, was noch läuft“. Plötzlich ist es Mitternacht. Er hat sich durch die Programme gezappt, eine Tüte Chips verdrückt und eine halbe Flasche Wein hinuntergeschüttet. Der Abend hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Er hat gegessen und getrunken und ist dennoch nicht wirklich satt und zufrieden geworden.
Kennen Sie solche oder ähnliche Erfahrungen? – Oft dienen Nahrungsmittel dazu, die eigenen Gefühle zu regulieren: Sich mit Essen zu verwöhnen ist ein leicht gangbarer Weg, um sich glücklich zu machen, zumindest kurzfristig. Mit Süßigkeiten lässt sich der saure Alltag versüßen. Probleme kann man durch Tabakgenuss vorübergehend in Rauch auflösen oder durch Alkohol hochprozentig vergessen. Mit solchen Ersatzstrategien lassen sich angenehme Gefühle herstellen oder verstärken und unangenehme hinunterschlucken. Doch wenn wir ein Loch stopfen wollen, dessen Grund nicht im Hunger liegt, wird keine Mahlzeit dieser Welt diese Leere füllen können! Das maßlose Essen soll einen emotionalen Hunger stillen, etwa nach Anerkennung oder Geborgenheit. Oder es soll schmerzliche Gefühle wie Ohnmacht, Wut oder Einsamkeit betäuben. In solchen Fällen verwenden wir Nahrung als Arznei – doch es ist das falsche Medikament. Wir sehnen uns nach mehr Lebensfülle, erreichen aber nur mehr Leibesfülle.
Die meisten Leute können ihr Essverhalten nicht zu jeder Zeit gleich gut kontrollieren. Immer mal wieder gibt es Phasen, in denen sie achtlos oder unkontrolliert essen. Manche machen sich dann selbst nieder, dass sie sich so wenig im Griff haben, und ärgern sich über ihre mangelnde Selbstbeherrschung. Andere stellen sich in solchen Situationen regelmäßig auf die Waage in der Hoffnung, dass der unerbittliche Realitätsschock ihnen hilft, ihr Körpergewicht leichter in Griff zu kriegen. Aber wir Menschen funktionieren nicht wie eine Maschine, die man per Knopfdruck auf „reduzierte Kalorienzufuhr“ umstellen könnte. Hinter Gewichtsproblemen stehen häufig Gewichtungsprobleme. Mit Druck und Selbstvorwürfen zu operieren führt nicht unbedingt weiter. Wohl aber kann es helfen, anstelle des Körpergewichts mal das eigene Leben auf die Waage zu stellen.
ICH mit MIR im Gespräch
Dies können Sie etwa in folgender Weise tun: Nehmen Sie innerlich die Position einer guten Freundin oder eines guten Freundes ein. Stellen Sie sich vor, dass Sie beide ungestört zusammensitzen und dass Ihr Gegenüber Sie wohlwollend auf etwas anspricht. Zum Beispiel auf Ihr unkontrolliertes Essen, Ihren Alkohol- oder Zigarettenkonsum, Ihr stundenlanges Chatten oder Fernsehen, Ihren Kaufzwang … Und dass er Sie anschließend interessiert fragt: „Hast du den Eindruck, du bist im Lot oder aus der Balance geraten? Gibt es typische Situationen, wann du dich mit etwas vollstopfst? Was spürst du in solchen Momenten? Und wenn du auf das Jetzt schaust: Hat etwas zu wenig Raum in deinem Alltag? Was wünschst du dir, um dich wieder zufriedener zu fühlen?“
Vielleicht weckt dieses (Selbst-)Gespräch erst einmal Unbehagen, und man möchte es schnellstmöglich abbrechen. Dann lohnt es, sich in Erinnerung zu rufen: Ein Freund oder eine Freundin stellt mir diese Fragen nicht, um mich bloßzustellen oder fertigzumachen. Er oder sie möchte vielmehr, dass es mir gut geht! – Ähnlich interessiert und wohlwollend können wir auch mit uns selbst im Gespräch sein. Möglicherweise stoßen wir in einem solch inneren Dialog auf ein Ungleichgewicht im eigenen Leben.
Vielleicht kommt etwas zu kurz, das wirklich Bedeutung für uns hat, und anderes nimmt übermäßig viel Raum ein … Ein solches Selbstgespräch stellt einen wichtigen ersten Schritt dar! Denn durch die Bewusstwerdung können wir in der Folge besser für uns selbst sorgen. Wir können manches neu austarieren und in Balance bringen. Die Fastenzeit regt an, nachdenkend und betend das eigene Leben auf die Waage zu stellen. Vielleicht stellt sich die Einsicht ein: Es wäre gut, auf dieses oder jenes zu verzichten. Und es wäre lebensförderlich, anderem oder anderen mehr Zeit und Raum zu geben. Wer seine Einsicht dann auch noch in die Tat umsetzt, wächst in der Lebenskunst, mit sich selbst befreundet zu sein – eine Kunst, die zur Mitte christlichen Lebens gehört.
Impuls
Besinnungsfragen
Mit sich selbst befreundet sein – das klingt ungewohnt und irgendwie fremd. Sie können sich einige Freundschaften vor Augen führen und sich fragen: Freundschaft – woran denke ich dabei ganz spontan? Wann würde ich jemanden als einen guten Freund oder als eine echte Freundin bezeichnen? Was braucht es, dass eine Freundschaft entsteht und sich entwickelt?
Für den Alltag
Um sich mit sich selbst zu befreunden, lohnt es, immer mal wieder darüber nachzudenken: Wie würde in dieser konkreten Situation eine gute Freundin oder ein echter Freund mit mir umgehen? Und sich dann davon was abgucken.
Das Buch zum Thema: Melanie Wolfers, Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein, adeo Verlag, 3. Auflage 2017, € 17,50
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