Ein regelmäßiger Check-in bei sich selbst kann der erste Schritt sein zur Freundschaft mit sich selbst – meint Sr. Melanie Wolfers im ersten Teil der Fastenzeit-Reihe „ICH mit MIR“.
Ausgabe: 2017/09
28.02.2017
Du hast null Freunde!“ In großen Lettern blinkte mir diese Nachricht entgegen, als ich aus beruflichen Gründen eine Facebookseite eröffnete. Keine erfreuliche Ansage! Doch glücklicherweise schloss sich unmittelbar die Ermutigung an: „Wir helfen dir, Freunde zu finden.“ Ich bin auf dieses Angebot ebenso wenig eingegangen, wie ich der Null-Freunde-Aussage Glauben geschenkt habe. Doch ich begann, mich zu fragen: „Melanie, du weißt um Freunde an deiner Seite, auf die du bauen kannst und die sich auf dich verlassen können. Aber wie sieht es im Umgang mit dir selbst aus: Wie kommst du mit dir selbst klar? Bist du – im Großen und Ganzen – mit dir und deiner Geschichte befreundet?“
Diese Frage zu stellen lohnt sich! Denn wir selbst sind die Person, mit der wir die längste Zeit unseres Lebens zusammen sind. Vom ersten bis zum letzten Atemzug verbringen wir das Leben in unserer eigenen Gesellschaft. Aus diesem Grund läge es nahe, dass wir ein großes Interesse daran haben, die Beziehung mit uns selbst zu pflegen – und zwar in einer Art und Weise, dass wir uns in unserer eigenen Gesellschaft wohlfühlen.
Doch sowohl im eigenen Leben als auch in meiner seelsorgerlichen Tätigkeit stoße ich oft auf das Gegenteil: Häufig bringen wir der Beziehung mit uns selbst wenig Aufmerksamkeit entgegen. Wollen möglicherweise gar nicht so genau wissen, wie es uns geht. Haben wenig Interesse, uns näher kennenzulernen. Und darüber hinaus stimmen mich die vielen feindseligen Redewendungen unserer Alltagssprache nachdenklich wie etwa: „Ich könnte mir in den Hintern treten. Mich selbst ohrfeigen.“
Positive Redewendungen hingegen tauchen kaum auf. Und kommt doch einmal ein wertschätzender Ausdruck daher wie: „Ich könnte mir selbst auf die Schulter klopfen“, dann klingt dies schillernd, denn: Eigenlob stinkt!
Es liegt offenkundig näher, dass wir uns selbst harsch oder auch ablehnend begegnen als mit freundlichem Wohlwollen.
Wie können wir besser mit uns klarkommen? Was hilft, Freundschaft mit sich selbst zu schließen?
ICH mit MIR im Gespräch
Eine zwischenmenschliche Freundschaft lebt vom echten, wohlwollenden Interesse aneinander. Mit einem Freund oder einer Freundin will ich gemeinsam Zeit verbringen. Umgekehrt beginnt eine Freundschaft zu bröckeln, wenn 1000 andere Dinge wichtiger erscheinen als ein gemeinsamer Abend. Fehlendes Engagement und Desinteresse untergraben eine vertrauensvolle Beziehung, bis sie dann irgendwann wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht.
Was bedeutet dies nun analog für die Beziehung mit sich selbst? Es braucht zuallererst ein waches Interesse an der eigenen Person. Vielleicht denken Sie: „Was soll denn daran besonders sein? Jeder und jede ist sich selbst der/die Nächste und schaut auf sich.“ Doch sich selbst mehr kennenlernen zu wollen ist alles andere als selbstverständlich! Den umtriebigen Alltag so zu gestalten, dass wir immer wieder neu den Kontakt mit uns suchen, verdankt sich einer bewussten Lebenskultur. Zwar seufzen viele sehnsüchtig: „Hätte ich doch mehr Zeit für mich!“, doch häufig setzen sie ihren Wunsch nicht in die Tat um. Wie entschlossen jemand ist, in Tuchfühlung mit sich selbst zu kommen, erweist sich darin, ob er oder sie sich tatsächlich Zeit und Aufmerksamkeit schenkt.
Ein kleiner Realitätscheck:
Pflegen Sie eine Kultur des Rückzugs und der Selbstreflexion?
Schenken Sie den verschiedenen Stimmen in sich Gehör: der Sprache des Körpers und der Gefühle, der Träume und Ängste?
Lauschen Sie auf die substanziellen Fragen, die auftauchen, wenn Sie mit sich allein sind? Fragen, in denen es um die eigene Person geht und die auch ein beunruhigendes Potenzial in sich tragen.
Wer das Gespräch mit sich selbst sucht, der öffnet die Tür zu einem Leben in Freundschaft mit sich. Es braucht den regelmäßigen Rückzug in die Stille, um Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Um das eigene Leben zu führen.
Aug‘ in Aug‘ mit Gott
Was passiert, wenn nichts passiert? Wenn man bei sich eincheckt? Wenn Schweigen zur Stille wird?
Stille hat eine beruhigende und heilende Kraft. Die Stimmen, die etwas von einem wollen und immer weiter treiben, verstummen: die Stimme des Ehrgeizes, der Druck der Konsummaschinerie oder die Angst, nicht zu genügen, etwa die Angst: „Ich bin nicht gut genug. Nicht erfolgreich, beliebt oder schön genug.“
In der Stille lässt sich erleben: Ich darf einfach da sein, ohne etwas leisten oder machen zu müssen. Nichts und niemand will etwas von mir – nicht einmal ich selbst.
In dem Maß, in dem wir – immer wieder neu – den inneren „Raum der Stille“ aufsuchen, werden wir bei uns selbst ankommen.
Und diese Einkehr ist ein zutiefst spirituelles Geschehen. Denn wer näher zu sich selbst findet, erahnt zugleich einen umfassenderen Grund, der einen selbst und alles von innen her trägt.
Und umgekehrt gilt: Je mehr wir in Berührung kommen mit dem göttlichen Geheimnis, umso mehr kommen wir in Kontakt mit uns selbst.
Bernhard von Clairvaux bringt diesen inneren Zusammenhang auf den Punkt: Geh deinem Gott entgegen bis zu dir selbst.
Impuls
„Der Augenblick ist das Gewand Gottes“
Martin Buber
Der Alltag birgt viele Gelegenheiten, um auf den gegenwärtigen Augenblick aufmerksam zu werden. Sie können die zahlreichen „Zeitsplitter“ wie etwa das Warten auf den Bus oder das Hochfahren des Computers nutzen, um eine präsente Haltung einzuüben:
Ich nehme aufmerksam wahr, was im jeweiligen Moment um mich herum geschieht und was in mir selbst geschieht – ohne zu beurteilen und zu bewerten.
Wer sich „in das Herz der Gegenwart sinken lässt“ (Thomas Merton), kommt in Berührung mit Gott, dessen Name lautet: Ich bin der Ich-bin-da. Ich bin da, wo du bist (Ex 3, 14).