Wo es passt, denkt ein Mensch nicht mehr an die Umstände, in die er gekleidet ist. Leitartikel von Matthäus Fellinger.
Ausgabe: 2017/02
10.01.2017 - Matthäus Fellinger
Eine Rolle guter grauer Stoff. Das war das letzte „offizielle“ Geschenk des Firmpaten. So war es üblich damals am Land. Einige Monate später ging der Vater mit mir zum Schneider. Aus dem Stoff wurde ein Anzug gefertigt. Der einzige Maßanzug, den ich je besessen habe. Inzwischen sind Maßanzüge etwas für die „besseren Leute“. Man kauft von der Stange oder nach ungefähren Maßen: Small bis XXXLarge.
Wie gut täte es, wenn man es sich zurückerobern würde: dieses genaue Maßnehmen am Menschen. Zu aufwändig, zu kompliziert und zu teuer sei es, sagt man. Ein intensives Eingehen auf den einzelnen Menschen scheint nicht mehr zeitgemäß – ungebührlicher Luxus.
Förden und fordern nach Maß, nach Talenten und Schwächen. Das bräuchte es. Es ist wie bei Anzügen. Wo das Maß falsch genommen ist, zwickt es. In vielem ist es eher so: Da wird der Mensch in die Normen gestopft, statt dass man Maß nähme an ihm. Mag das ein Grund sein, warum so viel Unbehagen in der Gesellschaft spürbar ist? Zu wenig genau beachtet nach Stärken und in den Grenzen? Jede und jeder nach gleichem Maß, meinen manche, wäre gerecht. Doch Normgrößen sitzen selten gut. Das menschliche Maß kennt unterschiedliche Längen und Gewichte, je nach Mensch. Wo es passt, denkt ein Mensch nicht mehr an die Umstände, in die er gekleidet ist.