Die Gier beherrscht uns. Sie kann nur geheilt werden, wenn sie in Sehnsucht verwandelt wird.
Schon bei der Unkeuschheit sind wir auf die Gier gestoßen, die sich in alle unsere Gefühle und Bedürfnisse hineinmischen kann. Wir sprechen von Habgier, Geldgier, Essgier, aber auch von Habsucht oder Ess-Sucht. Gier kann zur Sucht werden. Wir werden süchtig nach dem, was wir begehren. Im Buddhismus ist die Gier die Grundgefährdung des Menschen überhaupt. Der spirituelle Weg besteht für den Buddhismus darin, von seiner Gier frei zu werden. Denn wenn wir von der Gier beherrscht werden, können wir nicht offen werden für Gott. Die Gier hat uns im Griff.
Sehnsucht hält lebendig. Das lateinische Wort für „Begehren“ heißt „desiderium“. Es kann auch Sehnsucht bedeuten. Die Gier wird also nur geheilt, wenn sie wieder in Sehnsucht verwandelt wird. Das lateinische Wort für Sehnsucht hat mit den Sternen (sidera) zu tun. Die Sehnsucht möchte die Sterne herunterholen, sie möchte den Himmel nach unten zwingen. Die Sehnsucht nach den Sternen, die wir nie erreichen, hält uns lebendig. Sie öffnet uns letztlich auf Gott hin. Aber die Gier beherrscht uns. Sie bewirkt in uns keine Lebendigkeit, sondern Unruhe. Der Gierige kommt nie zur Ruhe. Er muss alles haben, alles besitzen, alles an sich raffen. Er bekommt nie genug. Er ist unfähig zu genießen. Wer gierig nach Besitz ist, kann sich nie des Reichtums erfreuen. Denn er ist nur auf Mehrung des Besitzes aus, auf Eroberung, aber nicht auf Genuss oder Ausruhen auf dem Erreichten.
Gier ist herzlos. Wer gierig eine Frau begehrt, wird sie zwar erobern. Aber er ist unfähig, mit ihr wirklich eine Beziehung einzugehen, das Miteinander zu genießen. Die Gier schneidet ihn ab von seinem Herzen. Der Gierige ist herzlos. Er wird getrieben von dem Trieb, alles, was er sieht, auch zu besitzen und zu benutzen. Die Gier verfälscht unser Menschsein. Die Griechen haben das durch die Sage vom reichen König Krösus ausgedrückt. Er wollte, dass alles, was er berührt, sich in Gold verwandelt. Das hat ihn abgeschnitten vom Leben. Denn er konnte nichts mehr essen, weil es zu Gold wurde. Und er konnte sich nicht mehr an einer Frau erfreuen, weil sie in lebloses Gold verwandelt wurde. Die Griechen haben verstanden, dass die Gier nicht glücklich macht, sondern den Menschen in ein dauerndes Unglück stürzt.
Der Gierige kennt kein Maß. Das, was die sechste Todsünde meint, wird im Deutschen auch als Unmäßigkeit beschrieben. Die Unmäßigkeit hat natürlich mit der Gier zu tun. Der Gierige hat kein Maß.
Unmaß im Essen und Trinken. Die Unmäßigkeit bezieht sich nicht nur auf den unmäßigen Konsum. Viele klagen sich an, wenn sie unmäßig im Essen oder Trinken waren. Doch das ist mehr eine Frage der Disziplin und der inneren Freiheit. Natürlich ärgern wir uns, wenn wir ständig zu viel essen und uns immer weiter von unserem Idealgewicht entfernen.
Maßlos in den Ansprüchen. Doch Unmäßigkeit meint noch etwas anderes. Wir sind oft maßlos in den Ansprüchen an uns selbst. Wir meinen, wir müssten immer perfekt sein, immer alles im Griff haben, immer cool bleiben, immer erfolgreich, immer gut drauf, immer alles positiv sehen. Durch solche maßlosen Ansprüche an uns selbst überfordern wir uns. Zwei Krankheiten nehmen heute zu: Angstattacken und Depressionen. Beide Krankheiten sind ein Hilfeschrei der Seele gegen die maßlosen Ansprüche an uns selbst. Wir sollen dankbar sein, wenn die Seele gegen diese Unmäßigkeit in unserem Selbstbild rebelliert. Sonst würden wir immer mehr in eine Sackgasse rennen. Aber die Rebellion unserer Seele zeigt uns auch, dass die Maßlosigkeit uns nicht gut tut, dass sie uns krank macht.
Trauer hilft. Die Therapie gegenüber der Gier und der Unmäßigkeit setzt einmal darauf, dass wir unsere eigene Durchschnittlichkeit betrauern. Wir sind nicht die besten und erfolgreichsten und die schönsten Menschen, die es gibt. Wir sind, wie wir sind. Nur wenn wir unsere Durchschnittlichkeit betrauern, erkennen wir auch unsere wahren Fähigkeiten und die Möglichkeiten, die in unserer Seele bereitliegen. Zum andern besteht die Therapie der Gier darin, dass wir unsere Gier zu Ende denken. Wenn ich alles, was ich sehe, besitze, was geschieht dann? Wie fühle ich mich dann? Bin ich dann wirklich glücklich?
Zu Ende denken. Wonach sehne ich mich denn wirklich, wenn ich gierig nach allem greife, was sich mir in den Weg stellt, wenn ich gierig jede Frau oder jeden Mann erobern möchte? Wenn ich die Gier zu Ende denke, stoße ich auf die Sehnsucht nach etwas, das größer ist als ich selbst. Letztlich ist es die Sehnsucht nach Gott. Die Gier wird nur geheilt, wenn sie in Sehnsucht verwandelt wird. Es ist letztlich ein spiritueller Weg, der mich von meiner Gier befreien kann. Nicht indem ich sie mir verbiete, wird sie sich wandeln, sondern indem ich sie zu Ende denke und sie wieder in Sehnsucht verwandle.
Gebet
Barmherziger und guter Gott, du durchschaust meine Gedanken und Phantasien. Du kennst die Gier, die sich tief in meine Seele eingegraben hat. Befreie mich von der Gier und schenke mir das rechte Maß, damit ich meinem wahren Wesen gerecht werde. Befreie mich von dem Drang, alles für mich besitzen und benutzen zu wollen. Schenke mir die Fähigkeit, über die Menschen und die Welt zu staunen und sie in ihrem ursprünglichen Glanz zu lassen, anstatt sie mit meiner Gier zu trüben. Und schenke mir die Fähigkeit, die Welt zu genießen, indem ich sie lasse.
Amen.
Übung
Das Gegenteil von Gier ist das Lassen. Ich lasse die Dinge so, wie sie sind. Versuche einmal, alles, was du siehst, einfach zu lassen, ohne es zu begehren, ohne es für dich haben oder benutzen zu wollen.
Fange bei der Natur an. Schaue in sie hinein, staune über ihre Schönheit. Aber lasse sie so, wie sie ist. Schaue auf die Dinge in deinem Zimmer, auf die Bilder, auf die Erinnerungsstücke, die du von deinen Eltern hast oder von Reisen oder von Besuchern. Sie verraten dir ihren Zauber nur, wenn du sie lässt. Du kannst sie sowieso nicht besitzen. Sie sind da und künden von etwas anderem. Lass dich von ihnen erinnern an das, was du erlebt hast. Dann schaue auf Menschen, ohne sie erobern, für dich ausnutzen, ohne sie besitzen zu wollen. Übe dich ein in einen Blick, der nicht bewertet, der nicht besitzen, der nicht haben will. Lasse die Schönheit einer Frau, eines Mannes, einfach sein, was sie ist. Bei dieser Übung wirst du erkennen, wie oft du gierig bist, wie oft du die Menschen, die Schöpfung, die Dinge für dich haben und ausnutzen willst. Und beobachte dich beim Essen. Kannst du wirklich genießen oder schlingst du alles gierig in dich hinein? Spüre den Unterschied des langsamen Genießens und des Verschlingens. Dann wirst du wahrnehmen, dass die Gier dir nicht gut tut. Das Lassen dagegen beschenkt und bereichert dich.