Das Tischtuch auszubreiten ist wie ein Tischgebet. Es sagt: Hier geschieht etwas, wofür ich dankbar bin. Leitartikel von Matthäus Fellinger.
Ausgabe: 2017/38
19.09.2017 - Matthäus Fellinger
Notwendig wäre es nicht. Essen kann man ohne Tischtuch. Im Zeitalter des Kantinen- und Schnellimbiss-Essens ist das so üblich geworden: Ein Tischtuch braucht es nicht.
Andererseits: Auf gesundes Essen nehmen zunehmend mehr Leute Bedacht. Vitaminreich soll es sein, ausgewogen, nach Möglichkeit biologisch und fair gehandelt. Auch dazu braucht es kein Tuch. Macht doch nur mehr Arbeit! Nährwert hat dieses Stück Stoff keinen. Für den Körper nicht.
Doch es schafft ein Mehr für die Seele. Man stopft nicht bloß etwas in sich hinein. Ernährung wird zum Mahl – bisweilen zum Fest. Das Tischtuch auszubreiten ist wie ein Tischgebet. Es sagt: Hier geschieht etwas, wofür ich dankbar bin. Hier ereignet sich mehr als bloße Nahrungsaufnahme. Hier bekommt man nicht nur Kalorien und Vitamine. Hier geht es um Zutaten, die nicht in Kochbüchern stehen. Lebensfreude. Gemeinschaft. Zuneigung. Die Essenszeit wird zur Stunde, auf die man sich freut – nicht nur wegen der Lieblingsspeise. Das Tischtuch ist wie ein Webstück vom Himmel. Nicht das Nötige, das Schöne nährt die Seele. Das Tuch schafft eine Atmosphäre, oder sage man besser: es steht für die Andacht, in der man die Speise zu sich nimmt.
Es ist Erntedankzeit. Da geht es nicht nur um das Einfahren von Lebensmitteln und den Handel mit ihnen. Es geht um Dankbarkeit. Wir können Tische decken.