Viele Menschen mit Nahtoderfahrung wollen den Beweis dafür haben, dass es ein Leben nach dem Tod gibt – weil sie es angeblich selber gesehen haben. Ob Gott ihnen einen Blick auf das Jenseits gewährt hat, bezweifeln nicht nur Mediziner.
Ausgabe: 2018/02
09.01.2018 - Paul Stütz
Nach einem Blinddarmdurchbruch hatten die Ärzte Josef Atzmüller schon für tot erklärt. „Gestorben am 19. Dezember 1964“. Das stand auf dem Zettel, der auf dem Zeh des damals 16-Jährigen hing. Als sich dieser Zeh auf einmal doch noch bewegte, rannte die behandelnde Schwester schreiend aus dem Krankenzimmer. Entgegen aller Erwartungen hatte der Jugendliche überlebt – und dabei eine eindrückliche Erfahrung gemacht. „In der Ferne habe ich einen winzig kleinen Lichtpunkt gesehen, der immer näher kam und heller wurde. Die Leuchtkraft übersteigt alles, was man auf der Welt sehen kann. Es war wie eine bunte Farbenpracht und ich war ein Teil davon“, erinnert sich der 69-jährige pensionierte Unternehmensberater, weißes, schütteres Haar, mit sanftem Lächeln. Auf den Weg nach oben trug ihn dieses Licht, sphärische Musik und himmlische Wesen. Er sagt: „Ich habe das Licht Gottes und das Jenseits gesehen.“
Josef Atzmüllers Schicksal ist kein Einzelfall. Laut einer Umfrage von Soziologen an der TU Berlin aus dem Jahr 1998 sollen 4,2 Prozent der Bevölkerung von einer Nahtoderfahrung betroffen sein. Das wären in Österreich 300.000 Menschen. Dabei gibt es keine einheitliche Definition, was eine Nahtoderfahrung ist. Sie wird meistens berichtet durch Menschen, die einen Herzstillstand hatten, klinisch tot waren. Unter jenen, die durch Unfälle oder Krankheit dem Tod ins Auge gesehen haben, gibt es jedenfalls manche, die sich nachher sicher sind, sie hätten das ewige Leben im Jenseits erblickt. Bereits in den 1970er-Jahren führte die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross Hunderte Gespräche mit Fast-Toten. Die Berichte ähnelten sich auffallend oft: Typischerweise kommen darin das helle Licht, ein Gefühl der Geborgenheit und die Präsenz eines höheren Wesens vor.
Zweifel an Gottesbeweis
Gerade der Punkt, dass die Nahtoderfahrung quasi als Gottesbeweis zählen soll, wird von Medizinern in Zweifel gestellt. Der amerikanische Neurowissenschaftler Sam Harris geht davon aus, dass die Bilder der Nahtoderfahrungen durch körpereigene Drogen im Gehirn hervorgerufen werden. Biochemische Reaktionen sollen zu Halluzinationen führen und den Betroffenen die scheinbare Loslösung vom eigenen Körper „vorgaukeln“.
Ähnlich ordnet der Theologieprofessor Michael Rosenberger von der Katholischen Privat-Universität Linz die Nahtodberichte ein: „Das Gehirn steht im Moment des Sterbens im Stress und ist im Extremmodus. Das erzeugt diese besonderen Erfahrungen.“ Diese medizinischen Erkenntnisse wolle auch er als Theologe anerkennen. Außerdem stimmen sie mit der christlichen Glaubensvorstellung überein, in der es unmöglich ist, das Jenseits zu sehen und danach im Diesseits davon erzählen zu können. Auf die kurze Formel gebracht: Gott ist im Sterben dabei, aber er gewährt keinen Vorausblick auf den Himmel. „Was kein Auge geschaut hat, das hat Gott denen bereitet, die ihn lieben“, schreibt Paulus (zum Thema Bibel und Nahtod siehe auch rechts). Dieser Glaube dürfe nicht davon abhängen, ob jemand über die Schwelle des Todes hinausgesehen hat. Gott, die Auferstehung und das ewige Leben dürften eben nicht zur beweisbaren Größe werden.
Bewusstsein außerhalb des Körpers
Doch es gibt auch Stimmen aus der Wissenschaft, für die das Phänomen Nahtod auf ein Leben „danach“ hindeutet. Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel ist hier der prominenteste Verfechter. In seinem Bestseller-Buch „Endloses Bewusstsein“ vertritt er die These, dass sich Bewusstsein nicht auf das Gehirn reduzieren lässt, denn es existiere auch nicht-lokal außerhalb des Körpers. Der heute 74-Jährige hat in einer Studie zwischen 1988 und 1992 344 Patienten interviewt, die laut van Lommel zeitweilig klinisch tot waren und ins Leben zurückkamen. Das Ergebnis: 62 der Interviewten berichteten detailliert von Nahtoderlebnissen. Es spiele dabei keine Rolle, was den Herzstillstand des Patienten hervorrief und aus welchem gesellschaftlichen Umfeld er kommt. Manche hätten sogar davon erzählt, wie sie ihre Operation mit ansahen und sich anschließend an Einzelheiten erinnerten, die sie unmöglich wissen konnten.
Langes Schweigen über Nahtoderfahrung
Bei Josef Atzmüller sollte es 30 Jahre lang dauern, bis er über seine Nahtoderfahrungen sprechen konnte. Das lange Schweigen hat er mit dem Schreiben von drei Büchern über den Nahtod und durch über 100 Vorträge wettgemacht. Sein weiteres Leben hat die Erfahrung im Alter von 16 Jahren stark beeinflusst. Er spüre eine tiefe Verbindung mit Gott. „Den Bezug zu Gott vergisst man leider häufig“, sagt er. Seine Spiritualität habe ihm auch während seiner Tätigkeit als Manager geholfen: „Wenn ich nicht wusste, welche Entscheidung ich treffen sollte, habe ich am Abend zu Gott gebetet und danach immer die richtige Antwort gewusst.“ Aus dem Glauben sei bei ihm Gewissheit geworden.
Wie geht er also heute mit dem Thema Tod und Sterben um? „Ich mag mein Leben, aber dem Tod blicke ich mit Freude entgegen“, sagt Josef Atzmüller. Glaubt man der Studie des Kardiologen Pim van Lommel, ist Atzmüller damit kein Einzelfall. Betroffene von Nahtoderfahrungen hätten weniger Angst vor dem Tod und glaubten stärker an ein Weiterleben nach dem Tod. Eindeutig sei auch, was für diese Menschen an Bedeutung verliert: Geld, Besitz und Macht. «
Jesus Wundertaten als Nahtodthema in der Bibel?
Lazarus wird durch Jesus wieder auferweckt, ins Leben zurückgeholt. Lazarus war dem biblischen Bericht nach bereits vier Tage tot und die Verwesung seines Körpers hat schon eingesetzt. Mit einer „modernen“ Nahtoderfahrung ist die Geschichte von Lazarus deshalb nicht vergleichbar.
Die Bibel berichtet außerdem nichts darüber, was Lazarus in der Zeit seines Todes erlebte. Mögliche Erfahrungen im Jenseits bleiben unerwähnt. Ähnlich ist es bei den anderen Auferweckungen durch Jesus bei der Tochter des Jairus und dem Junge von Nain. Auch Jesus selbst erzählt den Jüngern nach seiner Auferstehung von den Toten nichts Konkretes über seinen Aufenthalt im Jenseits. Das kann man so auslegen, dass Gott in der Bibel keine ausdrücklichen „Beweise“ für das Leben nach dem Tod liefert. Es ist eine Frage des Vertrauens.