Claudia Wild beurteilt den Nutzen von Medikamenten und medizinischen Maßnahmen. Die Ergebnisse dienen als Entscheidungshilfe, ob ein Medikament von der öffentlichen Hand bezahlt wird oder nicht. Ihre Arbeit hat mit den explodierenden Kosten im Gesundheitswesen zu tun, aber noch mehr mit Solidarität und Menschenwürde.
Ausgabe: 2018/01
02.01.2018 - Josef Wallner
Warum braucht es Ihr Institut, das Health Technology Assessment? Claudia Wild: Wir sind in unserer westlichen Medizin an einem Plafond angekommen. Wir haben eine sehr gute Medizin. Aber was oben oft draufgesetzt wird, hat manchmal nur einen sehr begrenzten Nutzen. Die Pharmaindustrie ist hochproduktiv, aber die neuen Therapien sind mit gigantischen Kosten verbunden und haben zugleich die Tendenz, weniger wirksam zu sein.
Das kann man sich als Laie nicht recht vorstellen: neu und dennoch nicht besser?Wild: Am Beispiel von Medikamenten zur Krebsbehandlung kann ich das leicht zeigen. In den letzten fünf Jahren wurden ungefähr 80 neue Medikamente zugelassen. Von denen bewirkt aber nur ungefähr jedes siebte eine Lebensverlängerung von über drei Monaten. Alle anderen haben entweder gar keine lebensverlängernde Wirkung oder bloß eine ganz kurze von wenigen Tagen.
Was ist die Konsequenz aus diesem Befund?Wild: Erstens muss entschieden werden, welches dieser neuen Medikamente im Arzneimittelkatalog einer Krankenanstalt angeboten werden soll, und zweitens müssen die Patienten informiert werden, was die Medikamente wirklich können: nämlich sehr wenig. Meine Erfahrung ist, dass die Patienten zu selten umfassend informiert werden.
Schauen wir auf die Finanzen …Wild: Eine Jahresbehandlung zum Beispiel mit einem dieser neuen Lungenkrebsmedikamente kostet um die 130.000 Euro, eine herkömmliche Therapie etwa die Hälfte – der Unterschied von rund 70.000 Euro muss durch einen größeren Nutzen rechtfertigbar sein.
Kranke Menschen sind zu Recht sensibel. Könnten diese nicht im Blick auf Ihre Arbeit, Frau Wild, sagen: Sobald man krank ist, wird man auf einen Kostenfaktor reduziert?Wild: Ja, es geht auch um die Kosten, aber eben nicht nur. Irgendwo muss man einen Schnitt machen, was im Rahmen der solidarisch-finanzierten Gesundheitsversorgung bezahlt werden soll. Selbst wenn man 30 Prozent des Budgets fürs Gesundheitssystem ausgeben würde, bleiben die Mittel beschränkt und es müssen Entscheidungen getroffen werden. Aber es geht keineswegs nur um die Kosten. Es geht um die Patienten. Sie sollten wissen, dass die Medizin enden wollend ist, wie gering der Nutzen mancher Medikamente und wie hoch die persönlichen Kosten sind – nicht im finanziellen Sinn – sondern durch Nebenwirkungen, die die Lebensqualität am Lebensende dramatisch verringern.
Wie schafft man es, mit Patienten so zu kommunizieren, dass das verständlich wird?Wild: Es gibt Möglichkeiten der Therapie am Ende des Lebens, auch wenn diese Therapien nicht heilen können. Schauen wir auf die Palliativmedizin – die ist keineswegs kostengünstiger als Medikamente, aber würdevoller, weil den Menschen die Gelegenheit gegeben wird, sich zu verabschieden, statt sie endlos glauben zu machen, dass die Medizin noch und noch Mittel zur Verfügung hat.
Vom Lebensende zum Lebensanfang. Sie haben aktuell ein Medikament bewertet, das für Kinder entwickelt wurde, die mit einer Spinalen Muskelatrophie (Muskelschwund) auf die Welt kommen. Wild: Kinder mit dieser Krankheit sterben mit zwei, manchmal mit drei Jahren. Das getestete Medikament bewirkt, dass der Tod ein wenig hinausgezögert werden kann und in geringem Ausmaß von zwei bis drei Monaten auch die Dauerbeatmung, die eine große Belastung für Kind und Eltern darstellt. Das Kind wird nie aufstehen und gehen können. Aber natürlich klammern sich Eltern an jeden Strohhalm. Mir ist wichtig, dass gesicherte Daten zu diesem Medikament bei den Eltern ankommen. Die Eltern müssen entscheiden können, ob sie – nur aufgrund unrealistischer Hoffnung – dem Kind das antun wollen, dass es alle drei Monate eine Infusion ins Rückenmark bekommt.
In diesem Fall geht es auch um hohe Kosten ...Wild: Es geht hier nicht um hohe, sondern um gigantische Kosten, wobei sich jeder fragt, wie man diese Summe verlangen kann. Aber es ist ein Monopolprodukt. Es kostet im ersten Jahr um die 600.000 Euro und in den Folgejahren um die 300.000 Euro. Meine Aufgabe sehe ich auch darin, über eine alternative Verwendung der Geldmittel nachzudenken. Ob es etwa eine alternative Verwendung wäre, dass jeder Familie, die ein Kind mit Spinaler Muskelatrophie hat, eine Pflegekraft zur Verfügung gestellt wird, die die Eltern entlastet. Das wäre um einiges kostengünstiger und gesünder für das Familienleben. Aber das eine würde aus den Sozialmitteln und das andere aus den Gesundheitsmitteln kommen, deswegen ist das augenblicklich wegen der Rechtslage undenkbar.
Wohin steuert unsere Medizin?Wild: Unsere Gesellschaft hat die Verantwortung abgegeben, die Entscheidung zu treffen, welche Medizin wir eigentlich wollen. Wir sind Getriebene einer Hightech-Medizin, weil wir glauben, dass es keine Alternative gibt. Natürlich ist es mit Schwarz und Weiß nicht getan. Die Spitzenmedizin produziert viele gute Dinge, ich will das nicht verteufeln. Aber der Anspruch, wo ich eine Grenze setze – gesellschaftlich und persönlich –, ist verloren gegangen.
Wir haben unsere Seele verkauft. Hinter der Spitzenmedizin steckt eine unglaubliche Marketingmaschine. Jedes Medikament wird mit doppelt so viel Geld vermarktet, als zuvor ausgegeben wurde für dessen Entwicklung und Forschung.