Das „Unbehagen der Geschlechter“ hat Österreich erreicht: Aktuell hat der Verfassungsgerichtshof die gesetzlichen Regelungen aufgehoben, die homosexuellen Paaren bisher den Zugang zur Ehe verwehrten. In einem anderen Fall müssen die Höchstrichter entscheiden, ob neben männlich und weiblich auch ein „drittes Geschlecht“ eingetragen werden kann. Die kirchliche „Hintergrundmusik“ dazu ist oft Kritik an der sogenannten Gendertheorie. Was es damit auf sich hat, erklärt der Moraltheologe Martin M. Lintner in einem Gespräch, das vor dem VfGH-Enscheid geführt wurde.
Ausgabe: 2017/49
05.12.2017 - Heinz Niederleitner
Australiens Bürger/innen haben dafür gestimmt, auch homosexuellen Paaren die Ehe zu öffnen. In Österreich muss das der Verfassungsgerichtshof klären. Die Kirche beharrt aber darauf, dass Ehe nur die Verbindung zwischen Mann und Frau sein dürfe. Ist der Gegensatz unüberbrückbar?Martin M. Lintner: Die Verbindung von Mann und Frau, die miteinander ein oder mehrere Kinder zeugen und großziehen, hat weiterhin eine unersetzbare Aufgabe für die Gesellschaft. Es ist deshalb gerechtfertigt, die Ehe rechtlich anders zu behandeln als andere Partnerschaften. Umgekehrt glaube ich nicht, dass die Ehe langfristig darunter leiden wird, wenn der Staat andere Partnerschaften anerkennt und rechtlich regelt. Unabhängig von Begrifflichkeiten stellt sich die Frage: Wie müssen Partnerschaften von Menschen, die ihre Beziehung verantwortlich vor der Gesellschaft leben möchten, rechtlich geregelt und abgesichert werden, sodass es ihren moralischen und sozialen Rechten und Pflichten entspricht?
Die Kirche beruft sich auf das Naturrecht, wonach Regeln des Zusammenlebens aus der Natur ablesbar sind. Wenn aber Homosexualität eine natürlich gegebene Tatsache ist, muss sie die Kirche nicht anders bewerten?Lintner: Wir dürfen Natur nicht nur als biologische Vorgegebenheit verstehen. Im philosophischen Sinn ist sie eine Summe von Potentialen und Sinngehalten, die ein Mensch dank der Vernunft in der Wirklichkeit seiner Person entdeckt und entfaltet, z. B. in seiner Beziehungsfähigkeit und in seiner Sexualität. Die Frage ist dann, wie Menschen entsprechend ihrer sexuellen Orientierung und Identität die mit einer intimen Beziehung verbundenen menschlichen Sinngehalte von Liebe, Fürsorge, Lust, Verantwortung, Fruchtbarkeit usw. verwirklichen.
Kann die Kirche homosexuellen Paaren in irgendeiner Form der Anerkennung entgegenkommen?Lintner: Viele pastorale Mitarbeiter/innen und Priester, sogar Diözesanbischöfe versuchen, homosexuellen Menschen und Paaren zu begegnen, um sie persönlich kennenzulernen. Es geht ihnen nicht um ein Urteil über deren Lebensform, sondern darum, sie als Menschen wahrzunehmen, die das Bedürfnis haben und sich bemühen, verantwortet eine Partnerschaft zu leben, ohne von der Kirche verurteilt zu werden. Das anzuerkennen, ist ein erster wichtiger Schritt. Zudem sollten wir als Kirche die Zuständigkeiten des Staates bei der rechtlichen Regelung respektieren.
Der Verfassungsgerichtshof prüft, ob es die Möglichkeit der Eintragung eines „dritten Geschlechts“ geben soll. Was halten Sie davon?Lintner: Es gibt Menschen, deren biologisches Geschlecht bei der Geburt nicht eindeutig feststellbar ist. Bisher wurden sie oft als Kinder operiert oder hormonell behandelt, noch lange bevor sie dem zustimmen konnten. Später haben viele Probleme in der Entwicklung ihrer sexuellen Identität, weil man sie „in die falsche Richtung“ operiert oder behandelt hat. Hier ist es richtig, dass man die Geschlechtsbestimmung offen lässt und abwartet, in welche Richtung sich ein Mensch entwickelt und welche sexuelle Identität als die eigene entdeckt wird.
Zu wählen, mit welcher Geschlechtsidentität man leben will, ist auch ein Thema in der Gendertheorie. Sie wird in Teilen der Kirche stark angefeindet. Was besagt die Theorie insgesamt und wie schätzen Sie sie ein?Lintner: Es geht nicht darum, frei zu wählen, ob ich Mann oder Frau sein will, sondern dass ich das Recht habe, zu jener sexuellen Identität zu stehen, die ich als die meine entdecke, und sie selbstverantwortet zu leben. Übrigens ist ein Grundproblem in der Auseinandersetzung mit der Genderfrage, dass deren Gegner/innen oft gendertheoretische Positionen vollkommen überzeichnen oder sich an einigen Auswüchsen, die es in der Tat gibt, abarbeiten. Sie konstruieren daraus eine angeblich einheitliche Gendertheorie und kritisieren sie als ideologisch, um das herkömmliche Bild von Mann, Frau, Sexualität usw. aufrechtzuerhalten oder umgekehrt Homo- oder Transsexualität als widernatürlich abzulehnen. Es gibt aber nicht „die“ Gendertheorie, sondern viele unterschiedliche Ansätze von Genderstudien, Gendermainstreaming, Gendertheorien.
Manche sehen in den Gendertheorien eine große Gefahr. Sind sie wirklich so gefährlich?Lintner: Meines Erachtens nicht. Es gibt mittlerweile viele katholische Theolog/innen, die sich differenziert und kritisch-konstruktiv mit diesen Autor/innen auseinandersetzen. Wir tun gut daran, die berechtigten Anliegen aufzugreifen: Viele Genderstudien gehen von der ungerechten Behandlung von Frauen in unterschiedlichen Gesellschaften aus und versuchen, diese durch die Differenzierung von biologischer Geschlechtlichkeit und soziokulturellen Geschlechterrollen zu erklären und zu überwinden. Gendermainstreaming zielt auf Gleichberechtigung der Geschlechter auf der sozialen und politischen Ebene. Es zielt weder auf Gleichmacherei noch auf die Leugnung des Unterschieds der Geschlechter. Weitere Anliegen sind zum Beispiel die Sensibilisierung für die Komplexität der geschlechtlichen Identität eines Menschen sowie der politische Einsatz dafür, dass niemand aufgrund seiner/ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert werden darf.
Im Hintergrund stehen oft auch Familienbilder. Da geht es auch um andere Fragen: Auf der einen Seite gibt es zum Beispiel die Behauptung, dass Fremdbetreuung Kindern nützt. Auf der anderen (zum Teil kirchlichen Seite) wird eine Art „Verstaatlichung“ der Kindererziehung befürchtet. Geht diese Diskussion in die richtige Richtung?Lintner: Es wird immer eine Gratwanderung bleiben, das richtige Verhältnis zu finden zwischen der ureigenen Verantwortung der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, und der Aufgabe des Staates, sie darin zu unterstützen. Spätestens dann, wenn Kinder in den Kindergarten oder in die Schule kommen, mischt die Gesellschaft bei der Erziehung und Vermittlung von Werten mit. Hier ist es wichtig, dass alle Beteiligten sich die Frage stellen, was dem Wohl des Kindes am meisten dient. Familie und Staat brauchen einander und sollen einander ergänzen, nicht jedoch auf dem Rücken der Kinder gegeneinander arbeiten.
Tagung
Regenbogen-Kirche
„Höre die gerechte Sache“ lautete der Titel der vorwöchigen Konferenz des „Globalen Netzwerks Regenbogen-Katholiken“ in Dachau bei München. Es ging um die Integration homosexueller Menschen sowie von Mitgliedern anderer sexueller Minderheiten in der Kirche. Laut dem Co-Vorsitzenden Michael Brinkschröder bemüht sich das Netzwerk um Seelsorge und um einen Dialog mit Kirchenverantwortlichen. Die Erzdiözese München-Freising hat die Tagung unter dem Stichwort „Menschenrechte“ finanziell unterstützt, erzählt Brinkschröder.
Achtung. An manchen Orten der Weltkirche sieht es aber anders aus: Franz Harant, Leiter des informellen Arbeitskreises „Regenbogenpastoral Österreich“, berichtet von Tagungsteilnehmern aus Afrika und Osteuropa, die über große Ablehnung in ihrer Ortskirche erzählen. In Österreich gebe es dagegen in den Diözesen Linz, Innsbruck und Feldkirch Arbeitskreise zur Homosexuellenseelsorge. Auch Kärnten und die Steiermark seien in der „Regenbogenpastoral Österreich“ vertreten. Gesamtkirchlich steht das Thema in einem Spannungsverhältnis zwischen Ansätzen, die im Papstschreiben „Amoris laetitia“ sichtbar werden, und Beharrungskräften. „Je mehr homosexuelle Menschen in der Kirche sichtbar werden, desto hilfreicher ist es“, sagt Seelsorger Harant. „Diese Menschen wollen nicht nur geduldet, sondern auch geachtet werden.“