Kirche im Wandel – Biblische Impulse. 4. Teil (Ende der Reihe)
Ausgabe: 2008/47, Freiheit, Kirche im Wandel, Franziskaner, Biblische Impulse, Christinnen, Christen, Hermann-Josef Venetz, Weltkirche, San Ignacio de Velasco, Bolivien, Kirchenmodelle,
19.11.2008 - Der Autor Hermannn-Josef Venetz ist Professor emeritus für Neues Testament an der Universität Frib
Christinnen und Christen der ersten Generationen nahmen sich die Freiheit, Kirche so zu gestalten, wie es für die Er-fordernisse ihrer Zeit wichtig und nötig war.
In der Frage nach der Kirche im Neuen Testament haben wir uns in den letzten Beiträgen mit Jesus und seiner Bewegung auseinandergesetzt und einen Blick in das Korinth zur Zeit des Paulus’ geworfen. Es wurde deutlich, dass sich das Anliegen Jesu, wie es in der Jesusbewegung anfanghaft realisiert wurde, nicht eins zu eins auf Korinth übertragen ließ. Ähnliches ließe sich auch von anderen „Momentaufnahmen“ christlicher Gemeinden sagen, man denke z. B. an Jerusalem, an Antiochien, an Ephesus, an Philippi oder Rom. Jede Gemeinde musste ihren eigenen Weg entsprechend den dort ansässigen Gläubigen gehen, entsprechend der innergemeindlichen Gruppendynamik, entsprechend auch dem soziokulturellen und politischen Umfeld. Auch wenn hier aus Platzgründen keine genauen Vergleiche angestellt werden können, lässt sich mit großer Sicherheit folgendes sagen:
1. Die ideale christliche Kirche gab es nie. Darüber kann auch Lukas nicht hinwegtäuschen, wenn er in der Apostelgeschichte von der Gemeinde in Jerusalem sagt, die Menge der Gläubiggewordenen sei ein Herz und eine Seele gewesen, kein einziger habe seinen Besitz sein Eigen genannt, denn alle hätten alles gemeinsam gehabt (4, 32). Lukas sah sich wohl deswegen veranlasst, in der Mitte der Achtzigerjahre des ersten Jahrhunderts seinen Leserinnen und Lesern ein Idealbild der Anfänge vor Augen führen, weil die Zustände in den aktuellen Gemeinden eben alles andere als ideal waren. Dass in den Anfängen der Kirche in Jerusalem nicht alles zum Besten stand, wissen wir übrigens von Lukas selbst, wenn wir seinen weiteren Ausführungen aufmerksam folgen.
2. Keine konkreten Anweisungen. Jesus hat seinen Jüngerinnen und Jüngern bezüglich der Organisation und der Deutung der Gemeinden offensichtlich keine konkreten Anweisungen gegeben. Die Christen und Christinnen der ersten Generationen nahmen sich die Freiheit, Kirche so zu gestalten, wie es für die Erfordernisse ihrer Zeit wichtig und nötig war. Jede Generation hatte und hat selbst dafür zu sorgen, Kirche so zu gestalten, dass die „Sache Jesu“ bestmöglich zum Tragen kommt.
3. Das Verbindliche. Das dürfte auch das Verbindliche sein, das wir aus den Schriften des Neuen Testaments entnehmen können: Verbindlich sind nicht die Strukturen und die Titel und die Ämter und dergleichen; verbindlich ist die Freiheit, mit der wir für unsere Zeit nach Mitteln und Wegen suchen sollen, damit die Sache Jesu in unserer Welt Gestalt annehme.
4. Verschiedene Kirchenmodelle. Diesem Auftrag wird die Kirche nicht dadurch gerecht, dass sie überall auf der Welt ein einheitliches Kirchenmodell durchzusetzen versucht. Kirche, wenn sie wirklich Kirche für die Menschen und für die Welt von heute sein will, wird sich in den verschiedenen Kulturen je anders und je neu verleiblichen müssen (Inkulturation!) und sie wird keine Angst haben, dabei ihre Identität zu verlieren. Ihre Identität verlieren wird sie dann, wenn sie nur noch darauf aus ist, den Besitzstand zu wahren und zu bleiben, wie sie ist.
5. In kreativer Freiheit. Die Freiheit, zu der uns der Geist befreit und zu der uns das Neue Testament verpflichtet, hat weder mit Willkür noch mit Beliebigkeit etwas zu tun; sie ist vielmehr jene kreative Freiheit, die sich nur im Glauben an den Messias Jesus, in der Auseinandersetzung mit der Welt heute und im Hoffen auf die endgültige Befreiung verwirklichen lässt.