„Religion im Wandel“ lautet das Vortragsthema von Michael Ebertz. Hört man ihm zu, wird bald klar, dass der Wandel, von dem er spricht, nicht harmlos ist: Er erschüttert die Kirche in ihren Grundfesten.
„Ich kann leben, ohne ein Bild von Picasso gesehen zu haben. Ebenso kann ich heute ohne Religion leben“, bringt Ebertz den Platz der Religion in der Gesellschaft auf den Punkt. Mit dem Vergleich nimmt er dabei auf den Soziologen Niklas Luhmann Bezug. Man kann im Alltag nicht ohne Geld auskommen, nicht ohne durch Gesetze und Recht geschützt zu sein, aber Religion muss nicht mehr zwingend im Leben eines Menschen vorkommen. Dieser tiefgreifende Einschnitt ist geradezu zum Kennzeichen der Gesellschaft geworden und ist Ergebnis eines Modernisierungsprozesses, der sich über die Jahrhunderte gezogen hat. Die verschiedenen Daseinsbereiche des Lebens sind selbstständig geworden: Arbeit, Wirtschaft, Kultur und Freizeit können für sich bestehen und sind nicht auf Religion bezogen. Und umgekehrt: Religion wird nicht mehr durch das Alltagsleben gestützt. Das stellt für die Kirche eine schwierige Situation dar, resümiert Ebertz.
Einmischungsfähige Kirche. Gleichzeitig hat die katholische Kirche weltweit an Aufmerksamkeit gewonnen, obwohl sie keine Machtmittel mehr hat, weist Ebertz auf eine überraschende Entwicklung hin. Sie ist einflussreich auf dem Weg des Dialogs. Als Beispiele führt er Papst Johannes Paul II. an, der in der Irakkrieg-Frage dem amerikanischen Präsidenten George Bush die Stirn geboten hat. Oder der Einsatz der Kirche für das Leben: Sie wird gehört und ihre Positionen werden diskutiert.
Pfarren – ein schwieriges Pflaster. In den Pfarrgemeinden zeigt sich, was die Soziologen „gesellschaftlicher Modernisierungsprozess“ nennen – vor allem in einem seit Jahren anhaltenden, rapiden Schwund an Gottesdienstebesucher/innen. Dabei stecken die Pfarren viel Kraft in eine ansprechende Gestaltung von Liturgien und in die Vorbereitung von Sakramenten. Dieser Einsatz steht für Ebertz außer Frage, doch das Problem liegt anderswo: „Ein Schmied, der Hufeisen herstellt, kann unendlich fleißig sein, an der Qualität seines Produkts permanent feilen – wenn er nicht merkt, dass heute die allermeisten Menschen mit dem Auto fahren, tut er das Falsche.“ Für die Kirche heißt das: Die Menschen sind nach wie vor religiös, aber der Ort des Religiösen hat sich verändert. Sie können ihr „religiöses Gesicht“ – wie Ebertz sagt, nicht mehr im Alltag zeigen, da die einzelnen Daseinsbereiche nicht religiös sind. Ein Schaffner ist zum Entwerten der Fahrkarten angestellt, Religiosität hat in seiner Arbeit keinen Platz. Ebenso ein Bankangestellter. Würde er gleichzeitig mit dem ausbezahlten Geld den Kunden ein Gebetsbildchen in die Hand drücken, würde er seinen Job verlieren. Ebertz fasst den Befund zusammen: Die heutigen religiösen „Gelegenheiten“ finden sich außerhalb des Alltags, wenn der Alltag an seine Grenzen stößt: Wenn Beziehungen zerbrechen, wenn man mit Krankheiten konfrontiert wird oder man Erfahrungen des Glücks macht.
Vom Männergesangsverein lernen. Rezepte, was das für Pfarrgemeinden bedeutet, habe er keine, betont Ebertz, ausdrücklich erklärt er aber: Es muss neue Zeiten, Formen und Orte von Kirche geben. Am Beispiel eines Männergesangsvereins, den er vor längerer Zeit beraten hat, macht er deutlich, was er meint: Der Gesangsverein klagte über Nachwuchsmangel. Heute hat die Gruppe nicht recht viel mehr Mitglieder, aber um den Verein sind ein Frauen-, ein Kinder-, ein Jugend und ein Projektchor entstanden. „Es ist nicht mehr der Männergesangsverein, der er einmal war: Es singen heute mehr Menschen als damals. Das ist das Entscheidende“. Das Erfolgsrezept: Der Verein ist den Weg der Differenzierung gegangen, das ist der Weg des Wachstums. In diesen Bahnen sollten auch Pfarrgemeinden denken.
Im Mittelpunkt die Frohbotschaft. Die Frage darf dabei aber nicht lauten, wie kann unsere kirchliche Organisation wachsen, sondern: Wie werden mehr Menschen von der frohen Botschaft angesprochen? Wie die unterschiedlichen Gruppen des „Männergesangsvereins” getrennt proben und auftreten und nur ganz selten gemeinsam singen, wird es auch mit den Pfarren sein. Wir müssen Orte in den Pfarren schaffen, die offen für neue Milieus sind. Ebertz betont nochmals: Wachstum entsteht nur durch die Schaffung unterschiedlicher Angebote. Da haben die traditionsgebundenen Christen ebenso ihren Platz wie die Projektorientierenten, die nur auf begrenzte Zeit mitmachen.
Offene Frage: Landgemeinden. Die einzelnen Pfarren sind mit einem so umfangreichen Angebot – wie es notwendig wäre – überfordert, stellt Ebertz außer Frage. Daher plädiert der Theologe für eine Vernetzung von mehreren Pfarren, die in Absprache Unterschiedliches anbieten. Diese Form der Zusammenarbeit eignet sich vor allem für städtische Gebiete, für den ländlichen Raum wird es noch einiges an Versuchen und Experimenten und Nachdenken brauchen, so Ebertz.