Ausgabe: 2008/46, Korinth, Gemeinde, Kirche im Wandel, biblische Impulse, 3. Teil, Konflikthaufen, Hermann-Josef Venetz, Fribourg, Schweiz, Dirigismus
12.11.2008 - Hermann-Josef Venetz, Professor emeritus für Neues Testament an der Universität Fribourg Schweiz.
Die Gemeinde von Korinth war, scheint es, ein einziger Konflikthaufen. Doch statt durchzugreifen, verneigt sich Paulus vor seiner Gemeinde.
Nachdem Korinth um 146 v. Chr. im Krieg mit Rom praktisch dem Erdboden gleichgemacht worden war, wurde es ungefähr 100 Jahre später wieder aufgebaut. Schnell fand es zur alten Größe zurück. Von überall her wurden Leute angesiedelt: ausgediente Soldaten, Handwerker, Asylantinnen, die in den Industriebetrieben, in der Fischerei, in Handels- und Verkehrsunternehmen Arbeit fanden. Bald war Korinth wieder eine moderne Großstadt mit allem Drum und Dran.
Erste Gehversuche. Anfang der Fünfziger- Jahre sucht Paulus die dortige Synagoge auf (Apg 18). Mit seiner Predigt vom gekreuzigten und auferweckten Messias Jesus stieß er auf Widerstand. Die Verantwortlichen forderten ihn auf, die Synagoge zu verlassen. Es gab aber auch Leute, die mehr von ihm hören wollten. Ein begüterter Mann, ein gewisser Justus, stellte ihm für die Versammlungen den Innenhof seiner Villa zur Verfügung. Der Gemeinde schlossen sich bald auch Nichtjuden an, einfache Leute auch, Hafenarbeiter und Sklavinnen. Sie entwickelten einen riesigen Eifer und feierten ihre neu gewonnene Freiheit. Paulus konnte es sich leisten, weiterzuziehen und die Gemeinde sich selbst zu überlassen. Bereits zwei, drei Jahre später traten beträchtliche Spannungen auf, so dass die Gemeinde auseinanderzubrechen drohte. Die Briefe, die Paulus an die Gemeinde schreibt, enthalten kaum ein Kapitel, das nicht diesen oder jenen Konflikt zum Thema hätte.
Kein Dirigismus. Was soll Paulus mit diesem zerstrittenen Haufen in Korinth tun? Soll er der Gemeinde eine klare Verfassung aufnötigen? Soll er in dieser Gemeinde oder gar über diese Gemeinde eine klare Führung einsetzen, der alle zu gehorchen haben? Er tut weder das eine noch das andere. Er verneigt sich vor der Gemeinde. Bereits aus den ersten Versen des Briefes geht das hervor. Sie ist Gemeinde Gottes, nicht seine Gemeinde. Die einzelnen Gläubigen bekennt er als von Gott Geheiligte und von Gott Berufene. Was die Leute dort tun, tun sie, weil der Geist Gottes sie treibt. Auch wenn dem Apostel lange nicht alles gefällt, was da in Korinth geschieht, er sieht in der Gemeinde den Ort, an dem Jesus, der Messias, leibhaftig wird. Wie kommt Paulus eigentlich dazu, von der Gemeinde als vom „Leib Christi“ oder vom leibhaften Christus zu sprechen? Halten wir vor allem fest, dass Paulus weiß, wovon er spricht, wenn er „den Christus“ ins Spiel bringt. Paulus hat den gekreuzigten und auferstandenen Christus persönlich gesehen (1 Kor 9, 1); der Auferweckte ist ihm erschienen (1 Kor 15, 8); Gott hat ihm seinen Sohn offenbart (Gal 1, 15–16).
Die Gemeinde als leibhafter Christus. Paulus weiß auch, wovon er spricht, wenn er die Gemeinde zum Thema macht. Die Erfahrungen, die er in Korinth machte, waren sehr persönlich und konkret; anderthalb Jahre lebte er in hautnahem Kontakt mit den Leuten dort. Er wusste recht gut, wie es in einer Gemeinde, die aus Menschen besteht, zu- und hergeht. Er wusste auch, was es in der Gemeinde braucht: Predigerinnen und Lehrer, Prophetinnen und Sozialhelfer, Leitungstalente und stille Beter … (1 Kor 12). Das ist zwar alles recht kompliziert und unübersichtlich und konfliktträchtig; dafür ist es echt und greifbar. Das ist es, was Paulus erfahren hat: dass die Sache Jesu, das Anliegen Jesu, in der Gemeinde leibhaft und greifbar ist. Wo sollte denn Paulus dem lebendigen Messias Jesus anderswo begegnen, wenn nicht in der Gemeinde?