Besser wäre es, die Seele nicht als den Rest, sondern als die Gott-empfindsame Seite des Menschen zu begreifen. Ein Leitartikel von Matthäus Fellinger
Ausgabe: 2016/43, Leitartikel
25.10.2016 - Matthäus Fellinger
Arme Seelen! Woher nur kommt es, dass man der Seele unterstellt, arm zu sein? Vielleicht, weil man mit „Seele“ bloß das Übrig-Gebliebene des Menschseins meint – den armseligen Rest an Leben, der einem bleibt, wenn es mit dem wirklichen Leben zu Ende ist. Ganz und gar bedürftig kommt diese Seele daher. In alten Sagen geistern „arme Seelen“ jämmerlich durch Gemäuer und Moore und man hat Grund, sich vor ihnen zu fürchten. „Erlöse die armen Seelen aus der heißen Glut ...“ beteten auch Christen.
Besser wäre es, die Seele nicht als den Rest, sondern als die Gott-empfindsame Seite des Menschen zu begreifen – als das Darüberhinaus des Menschseins. Die starke Seite des Menschen wäre sie dann. Trotz seiner Grenzen vermag er mit Gott in Beziehung zu treten.
Als Anhang an Allerheiligen führt der Allerseelentag heute ein Schattendasein. Nur im engeren kirchlichen Bereich wird er begangen, ansonsten ist es ein gewöhnlicher Arbeitstag. Schade. Denn gerade an diesem Tag tritt die Seelenseite, die Gott-beschienene Seite des Menschen vor Augen. Es ist seine end-gültige Würde, unantastbar, weit über jede per Konvention festgeschriebene Menschenwürde hinaus. „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“, formuliert es Psalm 8. Der Mensch im Gotteslicht. Was sollte daran armselig sein?