05.11.2008 - Hermann-Josef Venetz, Professor em. für Neues Testament an der Universität Fribourg (Schweiz)
Die Jüngerinnen und Jünger Jesu waren nicht nur sein Fan-Club. Er ließ sie teilnehmen an seiner Sendung.
Die Jesusforschung der letzten Jahrzehnte hat das Jesusbild entscheidend korrigiert. Zum einen ist Jesus deutlicher in seine Umwelt eingebunden worden. Er wurde nicht mehr dem damaligen Judentum gegenübergestellt, wobei man dieses als dunkle Folie gebrauchte, auf deren Hintergrund Jesus umso heller aufleuchten konnte. Jesus war ein Jude vom ersten bis zum letzten Atemzug, und er hatte nie im Sinn, sich vom Judentum abzusetzen oder gar eine neue Religion zu gründen. Zum andern ist aber Jesus auch stärker in seine unmittelbare Mitwelt einbezogen worden. Die Jüngerinnen und Jünger waren nicht nur sein Fan-Club.
Die Königsherrschaft Gottes. Man darf annehmen, dass die Leute damals gewisse messianische Erwartungen an Jesus herangetragen haben. Ist er ein Prophet? Ist er der Messias? Beim unbefangenen Lesen der Evangelien hat man den Eindruck, dass diese Fragen und Erwartungen Jesus eher unangenehm waren. In der Mitte seiner Verkündigung stand nicht er, sondern das Reich Gottes. Die messianischen Erwartungen, die in der Luft lagen, übertrug er auf jene Bewegung, die er zur Verkündigung und zur Praxis der Königsherrschaft Gottes ins Leben rief. Auf die Frage nach dem Wie und Wann der Herrschaft Gottes antwortet er mit dem Hinweis auf seine Jüngerinnen und Jünger, auf jene kleine Herde, der der Vater die Königsherrschaft übergeben hat (Lk 12, 2) oder denen das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben ist (Mk 4, 11). Von Anfang an ließ Jesus seine Jüngerinnen und Jünger an seiner Sendung und an seinem Charisma teilnehmen: wie er sollten auch sie die Königsherrschaft Gottes ankünden; von ihm hatten sie die Gabe zu heilen und die Vollmacht Dämonen auszutreiben (Mk 3, 13–19; Lk 9, 1–6; Mt 10/Lk 10).
Solidarisch mit den Ausgegrenzten. Die Frauen und Männer um Jesus zeichneten sich dadurch aus, dass sie sich mit den Randständigen solidarisierten und so selbst zu Randständigen wurden. Sie verloren ihre gesellschaftliche Stellung und wurden bald schon zu den Missachteten, zu den Unreinen und Sündern gezählt, wie denn die Gegner auch Jesus als Fresser und Weinsäufer, als Freund von Zöllnern und Sündern wahrnahmen (Lk 7, 34). Der Kreis, der Jesus folgte, war eine Gemeinschaft von Gleichgestellten. Im Unterschied zu anderen Gruppierungen gab es hier keine Über- und Unterordnung, kein Oben und Unten, kein Zentrum und keine Peripherie (vgl. Mk 10, 42–45 u. Ä.). Und vor allem: die Frauen galten nicht weniger als die Männer. Der Zwölferkreis spricht überhaupt nicht dagegen. Als prophetisches Zeichen, das an das Zwölfstämmevolk erinnern sollte, war es nur verständlich, wenn er auf Männer begrenzt war. Dabei waren nicht die Männer wichtig, wichtig war die Erinnerung an jene große Vergangenheit, in der das ganze Volk, Männer und Frauen, als Königreich von Priestern und als heiliges Volk galt (Ex 19, 4–6).
Die vorrangige Option für die Armen und Leidenden. Von entscheidender Bedeutung sind auch jene Akzentsetzungen, auf die in den letzten Jahrzehnten die verschiedenen Befreiungstheologien aufmerksam gemacht haben. Jesu vorrangige Option für die Armen – man könne auch hinzufügen: für die Leidenden – hat Jesus nicht nur gelebt, er hat auch diejenigen, die ihm folgten, darauf verpflichtet. Auch wenn die heutige Kirche in einem ganz anderen Umfeld lebt, wird sie von den Besonderheiten der damaligen Jesusbewegung nie ganz absehen können.