Die ORF-Korrespondentin Susanne Scholl präsentierte ihr neues Buch
Ausgabe: 2008/09, Scholl, Tschetschenien, Pflaster, ORF, ORF-Korrespondentin, Töchter des Krieges, Russland, Putin, Dmitri Medwedew, Antiterror, Schicksale, Wahlen,
27.02.2008 - Susanne Eller
Nach wie vor ist Tschetschenien eine Krisenregion, auch wenn derzeit offiziell kein Krieg herrscht. Die ORF-Korrespondentin Susanne Scholl ist seit Jahren immer wieder in dieser Region unterwegs. Zur Situation im Land und über ihr neues Buch „Töchter des Krieges“ sprach sie kürzlich im Salzburger Schauspielhaus.
Fast täglich komme es in Tschetschenien zu Schießereien, berichtet Susanne Scholl. Für die Menschen in der autonomen russischen Republik im Nordkaukasus ist die Situation nach wie vor gefährlich. Es gibt keine Sicherheit, keine Infrastruktur und die Arbeitsplätze sind rar.
Tschetschenisierung. Von den täglichen Unruhen in Tschetschenien dringt jedoch derzeit kaum etwas in die Medien. Das habe damit zu tun, „was man in Moskau gerne Tschetschenisierung des Konflikts nennt“, so die Korrespondentin. „Das heißt, man hat mit Ramsan Kadyrow seit März 2007 einen moskautreuen Präsidenten in Tschetschenien, der für seine Brutalität bekannt ist. Das interessante ist, dass er mit Deckung Moskaus versucht, in seinem kleinen Bereich einen islamistischen Staat aufzubauen. Ein Zeichen dafür ist z. B., dass Frauen jetzt in öffentlichen Gebäuden Kopftücher tragen müssen. Jeder, der in Tschetschenien war, weiß, wie die Frauen es mit den Kopftüchern gehalten haben. Da gab es ein kleines Band, das ins Haar gebunden wurde und das war genug islamisches Kopftuch“, so die Journalistin. „Das groteske ist, dass Russland immer Angst hatte vor einer islamistischen Bewegung. Aber die Frage des islamischen Staates scheint Moskau nicht zu stören, so lange Kadyrow keine Unabhängigkeitstendenzen und keine Ambitionen auf das tschetschenische Erdöl und Erdgas zeigt.“ Die Unabhängigkeitsbestrebungen Tschetscheniens, die wertvollen Ressourcen im Land, die Zerstrittenheit innerhalb der tschetschenischen Eliten, aber auch die geopolitische Lage der Region im Nordkaukasus sind u. a. die Gründe dafür, warum der Konflikt zwischen der autonomen russischen Republik Tschetschenien und Russland seit Jahrhunderten anhält.
Antiterroristische Operation. Seit Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges (1999; 2001 wurde der Krieg von russischer Seite offiziell für beendet erklärt) kommt es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen, sowohl durch russische Einheiten als auch durch tschetschenische Rebellen. Tausende Zivilisten sind unter dem Vorwand des Terrorismus verschleppt, gefoltert und ermordet worden. Doch „der Terror aus Tschetschenien in Russland hat nichts mit Al Quaida zu tun, hat russische Wurzeln und ist eine Folge der Jahrhunderte langen Unterdrückungspolitik der Russen gegenüber den Tschetschenen“, stellt Susanne Scholl klar. „Der Versuch, aus Tschetschenien ein Spielfeld des internationalen Terrorismus zu machen, ist gezielt unternommen worden und war nach dem 11. September 2001 besonders gefragt. Der Krieg wurde elegant als ,antiterroristische Operation‘ bezeichnet, die im Grunde genommen bis heute anhält.“
Schicksale. Der Alltag im krisengeschüttelten Tschetschenien ist besonders für die Frauen schwierig. Da gibt es Anja, deren Mann von Uniformierten entführt wurde und seither nicht mehr aufgetaucht ist; Sainap, deren Haus von 20 Männern gestürmt wurde, die dann ihren Mann verprügelten und ihren Sohn mitgenommen haben; oder Sarema, die eine Bombe bei sich getragen hat, sie dann aber nicht zündete und sich den Behörden stellte und trotzdem zu 20 Jahren Straflager verurteilt wurde. Ihnen will Susanne Scholl in ihrem Buch „Töchter des Krieges. Überleben in Tschetschenien“ Gehör verschaffen. Sie erzählt anhand einzelner Schicksale, wie die Frauen versuchen, ihr Leben, trotz der schwierigen Konfliktsituation in ihrer Heimat, zu meistern. Ein Leben, das geprägt ist vom Kriegsgeschehen der vergangenen Jahre und von den immer wieder aufflammenden Gewaltakten. Ein Leben, das bestimmt ist von den traumatischen Erlebnissen, die sie als Mütter und Ehefrauen machen. Ein Leben, dass sie in einer Region führen, deren Traditionen auch frauenverachtende Tendenzen aufweisen, die sie in die Rolle der Unmündigen drängt. „Das ist den Tschetscheninnen durchaus bewusst und zum Teil rebellieren sie dagegen. Aber sie tun sich wahnsinnig schwer, weil es ständig um das Überleben der Nation geht“, so Scholl.
Tschetschenien: Eckdaten
- 1739: Russlands Kampf gegen die tschetschenischen Bergvölker im Kaukasus beginnt. - 1817 – 1864: Kaukasuskrieg - 1944: Rund eine halbe Million Tschetschenen und Inguschen werden unter Stalin nach Sibirien und Zentralasien deportiert wegen angeblich heimlicher Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland. Etwa ein Drittel der Deportierten stirbt. - 1957: Rückkehr der Deportierten in die Heimat. Ihre Arbeitsplätze und Häuser sind besetzt von anderen Sowjetbürgern, was die Wieder-Integration der Tschetschenen erschwert. - 1994 – 1996: Erster Tschetschenien-Krieg - 1999: Zweiter Tschetschenien-Krieg - Oktober 2002: Tschetschenische Kämpfer nehmen im Moskauer Dubrowka-Theater rund 800 Besucher als Geiseln. Sie fordern die Einstellung des Bürgerkriegs und den Abzug der russischen Truppen in Tschetschenien. Beim Sturm des Gebäudes durch russische Spezialeinheiten sterben alle 40 Terroristen und 129 Geiseln. - September 2004: In Beslan überfallen tschetschenische Islamisten eine Schule. Über 1000 Lehrer, Schüler und Eltern werden als Geiseln genommen. Am dritten Tag stürmen russische Sicherheitskräfte das Gebäude, das von den Terroristen vermint worden ist. Dabei kommen alle Geiselnehmer und 335 Geiseln ums Leben.Wer hinter den Terroranschlägen steht, ist bis heute nicht geklärt.
Zur Sache
Leseprobe
„Ein Jahr und vier Monate, nachdem sie den älteren Sohn geholt haben, sind sie wieder gekommen. (...) Wieder Uniformierte, Bewaffnete, rennen durch die Zimmer. Der Sohn schläft in einem Zimmer neben der Großmutter. Den haben sie auch aus dem Bett geholt und mitgenommen. (...) Er ist gerade erst zwanzig geworden und sie wollten ihm sieben verschiedene Straftaten anhängen. Sie haben ihn gezwungen, irgendwelche Dinge zu gestehen, die er mit dreizehn oder vierzehn begehen hätte müssen. (...) Ja, sie haben ihn rausgelassen, neun Monate hat er abgesessen. Wegen Teilnahme an einer illegalen bewaffneten Gruppe. Seither weiß er nicht, wohin mit sich. In der Nacht schläft er nicht. In ihm ist alles kaputt. Das, was er mit eigenen Augen gesehen hat und was er am eignen Leib erfahren hat, lässt ihn nicht los. Die Schuld unserer Kinder besteht ausschließlich darin, dass sie in Tschetschenien geboren wurden und dass sie Tschetschenen sind. Das ist die Schuld unserer Kinder.“ Jachita, die Blonde, sagt es und dreißig andere Frauen nicken. (...) Ich schaue mich um und sehe nur einen Mann in der Gruppe. Die Suche nach den verschleppten Söhnen und Töchtern, nach Ehemännern, Onkeln, Brüdern und Schwestern ist, so scheint es, ausschließlich Sache der Frauen. - Aus: „Töchter des Krieges. Überleben in Tschetschenien“ von Susanne Scholl. Molden Verlag 2007, Euro 19,90.
Im Blick
Wahlen in Russland
Am 2. März finden in Russland die Präsidentenwahlen statt. Dmitri Medwedew, Vize-Ministerpräsident und Aufsichtsratschef des russischen Erdgaskonzerns Gazprom, ist allem Anschein nach der einzige Kandidat, der realistische Chancen auf Wladimir Putins Nachfolge hat. Medwedew gilt als Vertrauter Putins, der keine dritte Amtsperiode mehr antreten darf. „Wie dieser angebliche oder möglicherweise wirkliche Machtwechsel funktionieren soll, weiß niemand“, sagt ORF-Korrespondentin Susanne Scholl. „Keiner kann sich vorstellen, dass Putin und die ihn umgebenden Leute aus den Sicherheitsorganen die Macht abgeben werden. Man kann nicht genau sagen, wo es sich hinbewegt, jedoch sicher nicht in Richtung Demokratie.“ Bemerkbar macht sich das auch im russischen Alltag. „Die Leute sind wieder vorsichtiger geworden. Man spürt die Angst, die während der sowjetischen Periode da war und die nach ’91 ein bisschen abgeschwächt war. Wenn wir früher Straßenumfragen machten, hat sich immer eine Menschentraube um uns gebildet. Jeder wollte seine Meinung sagen. Jetzt ist es so, dass die Hälfte der Leute, die wir ansprechen, nicht vor der Kamera reden will“, berichtet Scholl. Bürokratie und Korruption haben gigantische Ausmaße angenommen. Generell herrsche eine resignative Stimmung. „Wir hoffen, dass die neuen Generationen irgendwann einmal etwas tun werden“, so die Journalistin.