Zuwanderung und sexuelle Übergriffe – viele Menschen sehen hier einen Zusammenhang. Auch wenn man nicht verallgemeinern darf, ist klar: Integration hat auch eine sexuelle Komponente. In Vorarlberg geht man das Problem offensiv an.
Ausgabe: 2017/36
05.09.2017 - Heinz Niederleitner
Teil der gesellschaftlichen Verunsicherung ist die Geschlechterverteilung bei den Asylwerbern: 2015 waren laut Asylstatistik über 72 Prozent der Antragsteller männlich, 2016 dann 67 und heuer bislang 60 Prozent. Auch mutmaßliche Straftaten durch Asylwerber nähren Befürchtungen. Von den 782 der Vergewaltigung verdächtigen Personen 2016 waren laut Statistik des Innenministeriums 114 (14,6 Prozent) Asylwerber, bei den Verdächtigen wegen geschlechtlicher Nötigung machten sie 21,2 Prozent aus (Anteil der Asylwerber in Grundversorgung an der Bevölkerung: ca. ein Prozent). Beide Zahlen bedeuten Steigerungen zu den Vorjahren. Jeweils ragen afghanische Asylwerber als Tatverdächtige hervor. Das soll keinen Generalverdacht gegenüber einer Gruppe mit vielen tadellosen Menschen fördern. Aber manche Personen sind ein Problem.
Die Caritas Vorarlberg hat Sexualität zum Integrationsthema gemacht: Unbegleitete minderjährige männliche Flüchtlinge müssen in ihren Unterkünften einen verpflichtenden sexualpädagogischen Workshop besuchen. Die Durchführung liegt beim Eltern- und Familienzentrum der Diözese Feldkirch. Der Workshop findet an drei Abenden statt. Einer der Trainer ist Günter Schedler, der heuer vor allem mit afghanischen Burschen arbeitet – im Vorjahr waren es auch Syrer. „Der Umgang zwischen den Geschlechtern ist in der Heimat der Burschen ganz anders als bei uns“, sagt der Sexualpädagoge. Vor allem hätten die jungen Männer aus Afghanistan zunächst Probleme, Anweisungen von einer Frau entgegenzunehmen. Dass aber in den Quartieren viele Betreuerinnen arbeiteten, mindere das Problem mit der Zeit, sagt Schedler. Freilich: Im Workshop würden von den Burschen manche Themen nicht angesprochen, wenn eine Frau im Raum sei. Mit Ausnahme einer Juristin, die einen Teil des Seminars übernimmt, sind daher nur männliche Sexualpädagogen im Team.
Vergleich
„Zu den Inhalten gehört die sexuelle Selbstbestimmung“, erzählt der Pädagoge, „also die Freiheit, die es bei uns gibt, aber auch die kulturellen und strafrechtlichen Grenzen“. Niemand könne daher behaupten, er habe nicht gewusst, was in Österreich verboten ist. Der Unterricht baue auf einem Vergleich auf: Wie ist die Situation der Geschlechter im Herkunftsland, wie in Österreich. „Gewertet wird bewusst nicht. Schon wenn der Verdacht aufkommt, man werte die Herkunftskultur ab, trifft man auf Widerstand“, berichtet Günter Schedler. Es geht im Workshop auch um konkrete Situationen: Zum Beispiel, dass es nicht akzeptabel ist, wenn eine Gruppe Jugendlicher am See Frauen im Bikini anstarrt. Die jugendlichen Asylwerber seien aufmerksam, schildert der Vorarlberger Lehrer. Manchmal treffe er auch auf Zweifel: Wenn er von den Rechten homosexueller Paare in Österreich spricht, würden die Jugendlichen oft die Übersetzer ungläubig anschauen, bis diese ihnen die Worte des Pädagogen bestätigen. „Mit unseren Übersetzern, die selbst aus Afghanistan stammen, haben wir großes Glück“, sagt Schedler.
Tabu
Er ist überzeugt, dass der Workshop etwas in den jungen Männern verändert. Die Dankbarkeit, die er erfährt, hat freilich auch damit zu tun, dass viele überhaupt das erste Mal sexuell aufgeklärt werden: Das Thema ist in den Herkunftsländern ein Tabu. Über Geschlechtsorgane oder sexuell übertragbare Krankheiten wissen die jungen Afghanis meist nichts. Die Arbeit mit den Asylwerbern sei für ihn eine Herausforderung, aber auch sehr reizvoll, sagt Schedler.