Nichts Menschliches ist der Bibel fremd. Gott sei dank, könnten wir sagen. Und so geht es selbstverständlich in der Bibel auch um erotische Liebe. „Der Geliebte ist mein, und ich bin sein …“, so singt die Geliebte im Hohelied der Liebe im zweiten Kapitel, Vers 16. Vielleicht mögen Sie im Alten Testament in diesem Text ein wenig blättern und lesen.
Anregend und schön und zugleich für unsere heutige Sprache etwas fremd sind die Texte des Hoheliedes der Liebe. Wenig gelesen und doch wunderbar ist das „Hohelied“, ein biblisches Buch, in dem das Wort „Gott“ kein einziges Mal vorkommt. In späteren Jahrhunderten irritierten diese weltlichen Liebeslieder in der Bibel, und so wurde das Hohelied sowohl im Judentum als auch im Christentum bildhaft als Liebe zwischen Gott und Israel bzw. Christus und der Kirche verstanden.
Anziehungskraft
Es ist eine Sammlung von Liebesliedern aus dem 8. bis 6. Jahrhundert vor Christus, vermutlich von den oberen Schichten in Jerusalem niedergeschrieben. Im Mittelpunkt stehen die Liebeslieder eines jungen unverheirateten Liebespaares.
Wie im alten Orient üblich werden sprachlich viele Bilder, Symbole und Vergleiche verwendet: Die Liebe ist so süß wie der Honig, so berauschend wie der Wein, Blüten und Düfte zeigen die Anziehungskraft der Geliebten … Die Sprache klingt etwas übertrieben, wie so oft, wenn wir verliebt sind – damals wie heute. Er: „Schön bist du, meine Freundin, schön bist du! Deine Augen sind wie zwei Tauben.“ Und sie: „Schön bist du, mein Geliebter, verlockend, und Laub ist unser Lager.“ (1,15f) Oder: „Da ist die Stimme meines Liebsten! Ja! Er kommt! Springt über die Berge, läuft über die Hügel. Einer Gazelle oder einem jungen Hirsch gleicht mein Geliebter“ (2, 8f), so ein kleiner Abschnitt in der Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“. Und weiter, in der Übersetzung von Katharina Elliger: „Mein Geliebter singt mir zu: Steht auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! Schau doch, der Winter ist vorüber, der Regen ist dahin, vorbei. … Steht auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! … Lass mich dich anschauen, lass mich deine Stimme hören! Denn deine Stimme ist süß, und schön siehst du aus.“ (2, 10–14)
Auch wenn wir heute vielleicht andere Bilder wählen, es bleibt wunderbar, sich manchmal so überschwänglich aneinander zu freuen und einander zu umwerben.
„Besser als Wein“
Selbstverständlich ist von den eigenen Wünschen die Rede, sie sind einfach da: „Küssen soll er mich mit den Küssen seines Mundes. Ja! Gut ist deine Liebe, besser als Wein …“ (1,2) oder „Krank bin ich vor Liebe!“ (2, 5) Mann und Frau begegnen einander auf Augenhöhe, selbstverständlich gehen sie aufeinander zu, begehen sich und suchen sich – und finden sich. Und dann gibt es all diejenigen, die argwöhnisch beobachten, was das Liebespaar tut …
Schutzwall
Die Liebe der beiden ist wie ein Schutzwall gegen die Welt, gegen alles, was diese Liebe bedrohen könnte, gegen Unheil und Tod. Wie im Jüdischen das zentrale Bekenntnis des Glaubens an Kopf, Herz und Arm gelegt wird, so bitten die Liebenden: „Lege mich wie ein Siegel an dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm! Denn stark wie der Tod ist die Liebe …“ (8, 6f) Dieser Wunsch ist wohl so alt wie die Menschheit selbst: Möge die Liebe geschützt sein, möge nichts die Liebe stören und zerstören.
„Sein Leib ist wie aus Elfenbein, mit Saphiren bedeckt. Seine Schenkel sind Marmorsäulen, auf Sockeln von Feingold. Seine Gestalt ist wie der Libanon, erlesen wie Zedern. Sein Mund ist voll Süße; alles ist Wonne an ihm. Das ist mein Geliebter, ja, das ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems.“ (Hohelied 5, 14–16)
Glaubens-Serie "Überraschendes aus der Bibel" Teil 1 von 3 Autorin: Helga Kohler-Spiegel Professorin für Relgionspädagogik und Päd. Psychologie an der pädagogischen Hochschule Vorarlberg.