Hiroshima: Vor 60 Jahren wurde erstmals eine Atombombe eingesetzt
Thema
Ausgabe: 2005/31, Hiroshima, Atombombe, Little boy, Arrupe, Brandner, Steinmayr
11.08.2005 - Kirchenzeitung der Diözese Linz
„Little Boy“ wurde um 8.15 Uhr des 6. August 1945 gezündet. Ein Überlebender der ersten Atombombenexplosion erinnert sich.
Sadako war die geborene Läuferin. Ihre Mutter sagte immer, sie sei schon gerannt, bevor sie gehen konnte. Sadako war stark und gesund. Bis die Elfjährige erkrankte und ihr Hals dick anschwoll. „Das ist keine Erkältung. Ihre Tochter hat Leukämie“, sagte der Arzt zu ihrem Vater. Zehn Jahre waren seither vergangen, doch mit einem Mal waren sie wieder da: die Erinnerung an das Grauen, die Gedanken an das grelle Licht, die Hitze, die Druckwelle und den dreckig schwarzen Regen, den so viele in ihrem unsäglichen Durst tranken – und daran erkrankten.
„Es war ein warmer Montagmorgen, der 6. August 1945. Um 7.30 Uhr hatte es Fliegeralarm gegeben, doch der wurde um acht Uhr zurückgenommen“, erzählt Yoshinori Obayashi. Der damals 16-jährige Schüler war zur Kriegsarbeit eingezogen worden. Am Stadtrand von Hiroshima, durch einen kleinen Hügel vom Zentrum getrennt, musste er Teile für Torpedos fertigen. „Es war Viertel nach acht“, erinnert sich der heute 75-Jährige. „Ich war vertieft in die Arbeit, als jemand laut schrie und alle zum Fenster stürzten. Ich blickte kurz hin und sah den Himmel hell erleuchtet. Einen Moment später wurde ich weggeschleudert. Über mir brach alles zusammen.“ Was der Junge erst später erfuhr: Es war die Explosion der ersten Atombombe. Yoshinori blieb unverletzt. Kurze Zeit später rannten erste, schrecklich verstümmelte Menschen daher. Vom nahe gelegenen Hügel aus sah er eine brennende Wüste. Er wurde beauftragt, Essen zum Firmensitz in die Stadtmitte zu bringen. Der Weg war gepflastert mit Toten. „Manchmal sah es aus wie ein Stück verkohltes Holz. Dann sah ich Schuhe und wusste: Es ist ein Mensch.“
Am vierten Tag hörte Yoshinori Obayashi, die Stadt werde wieder mit der Eisenbahn versorgt. Er wollte seine Eltern besuchen. Dafür musste er das Stadtzentrum durchqueren. Genau dort war die Bombe explodiert. Im Umkreis von drei Kilometern war alles zerstört – außer einer Hand voll massiv gebauter Betongebäude wie das Haus der Industrie- und Handelskammer. Heute Atombomben-Dom genannt, ist es das einzige erhaltene Bombenskelett in der pulsierenden Millionenstadt. Der Atombomben-Dom diente ihm als Orientierungshilfe auf dem Weg zum Bahnhof. Von den Holzhäusern stand keines mehr. Der Boden war glatt und schwarz wie Lava. „Die Hitze war noch nach vier Tagen unerträglich“, erinnert er sich. Eine Szene ist dem Mann in schlimmer Erinnerung: „Aus einem Straßenbahnfenster ragt ein bizarr verformter Kopf. Augen, Nase und Mund sind nicht mehr zu erkennen. Alles ist verkohlt. Der Mann hat wohl bei der Zündung der Bombe aus dem Fenster geschaut.“ Die Namen der 140.000 Opfer von Hiroshima sind in Bücher geschrieben, die in einem steinernen Sarg im Friedenspark begraben sind. Auf dem Sarg heißt es: „Bitte, erhaltet den Frieden. Wir sollten Böses nicht wiederholen.“ Im Hintergrund brennt eine ewige Flamme des Friedens.
Ein Museum erinnert an das Drama des 6. August. Um nie zu vergessen, was eine Atombombe bedeutet, werden hier persönliche Erlebnisse der Überlebenden auf Zeichnungen festgehalten, in Worte gefasst und auf Video aufgenommen. Das Museum bewegt und hinterlässt sprachlose Besucher: „Um den Schmerz zu erleben“, hält ein US-amerikanischer Tourist im Gästebuch fest. „Denn nur wer den Schmerz erlebt, ist bereit, gegen ihn zu kämpfen.“ Sadako Sasaki, die 1955 an Leukämie erkrankt ist, kämpfte ebenfalls. Gegen ihre Krankheit. Die Elfjährige faltete unzählige Kraniche aus Papier. Mal waren sie groß, mal sehr filigran und aus schönem Papier. „Wenn ich 1000 gefaltet habe, wird mir der Wunsch nach einem langen Leben erfüllt“, sagte sie. Bereits nach wenigen Wochen hatte sie 1000 Kraniche gefaltet. Doch zwei Monate später, zehn Jahre nach der Explosion der ersten Atombombe „Little Boy“, starb Sadako Sasaki. An ihrem Monument im Friedenspark haben seither Kinder aus aller Welt Millionen Papierkraniche hinterlassen. Sie sagen: Hiroshima darf nie wieder geschehen!
Martin Arnold
www.hiroshima.atwww.pcf.city.hiroshima.jp
Hintergrund
Mit 4000 Grad auf Hiroshima
Nach der Explosion der Atombombe, 580 Meter über Hiroshima, prallt eine Hitzewelle mit 4000 Grad nieder. Die dadurch ausgelöste Druckwelle erreicht eine Geschwindigkeit von 2500 Kilometern pro Stunde. 90 Prozent der Häuser im Umkreis von drei Kilometern sind zerstört.140.000 Menschen von den 350.000 Einwohnern sterben bis Ende 1945. Von den Überlebenden sind bisher 60.000 an Krebs gestorben. Als drei Tage später, am 9. August 1945, über Nagasaki die zweite Atombombe „Fat Man“ gezündet wird, sterben weitere 74.000 Menschen.
In die Erinnerung eingebrannt
„Eine Erfahrung, die sich eingebrannt hat in meine Erinnerung“, so beschreibt Pater Pedro Arrupe seine Eindrücke des 6. August 1945. Der damals 37-jährige Baske hatte in Nagatsuka, wenige Kilometer außerhalb des Stadtzentrums von Hiroshima, das Noviziat der Jesuiten in Japan geleitet. Arrupe, der vor seinem Ordenseintritt Medizin studiert hatte, reagierte umgehend. Das Jesuitengebäude, von der Druckwelle ebenfalls zum Teil zerstört, wurde in ein Notspital, Arrupes Schreibtisch zum Operationstisch umgewandelt. So konnte Hunderten Menschen geholfen werden. Der spätere General des Jesuitenordens (1965 bis 1981) fasste seine Erinnerungen im ergreifenden Buch „Ich habe die Atombombe erlebt“ zusammen. Die Apokalypse von Hiroshima habe seine Augen dafür geöffnet, „wie tödlich und zerstörerisch Gewalt ist“. Pater Arrupe, der 1991 gestorben ist, war überzeugt: einziges Gegenmittel sei die „Pädagogik der Liebe“.
Jahrzehntelang zum Schweigen verurteilt
Ein doppeltes Leid mussten überlebende Atombombenopfer ertragen: teils schwere gesundheitliche Folgen und eine Diskriminierung in der japanischen Gesellschaft.
Warum waren gerade Hiroshima und Nagasaki Ziele der ersten Atombomben?
Brandner: Ursprünglich hätte die Waffe gegen Nazi-Deutschland eingesetzt werden sollen. Doch ab Mitte 1944 war klar, dass der Krieg beendet sein werde, bevor die Bombe fertig gebaut ist. Nach dem ersten Bombentest vom 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico begann die Suche des geeigneten Ziels. Die Vorgaben lauteten: „Es sollte ein Ort sein, wo das Zusammenwirken von Druckwelle, Hitze und radioaktiver Strahlung am besten funktioniert. Ein Ort, der von konventionellen Bomben bisher verschont geblieben ist, damit das Ausmaß der Zerstörung exakt festgestellt werden kann.“
Also der Praxistest für das, was die USA bereits zwei Milliarden Dollar gekostet hatte.
Brandner: Dabei begründete Präsident Truman die Entscheidung damit, dass die Bomben zu einem raschen Kriegsende und zur Kapitulation Japans geführt und dadurch das Leben hunderttausender Soldaten gerettet haben. Interessant, dass die USA bis heute an diesem Mythos festhalten, der einfach nicht stimmt. Erst im Mai hat eine Gruppe Überlebender das US-Air-Force-Museum in Dayton besucht. Dort ist jenes Flugzeug ausgestellt, aus dem die Bombe auf Nagasaki abgeworfen wurde. Ohne zu erwähnen, dass dabei 74.000 Menschen getötet wurden. Den Überlebenden gegenüber lehnte es der Direktor ab, einen derartigen Hinweis anzubringen. Er behauptete, es bestehe kein Zweifel daran, dass die Bomben zum Ende des Krieges beigetragen und damit mehrere Millionen Leben gerettet haben. Das ist blanker Zynismus.
Wie wurde den Opfern geholfen?
Brandner: Sie haben sich alleine gelassen gefühlt. Auch von der japanischen Regierung. Von der Gesellschaft wurden sie jahrelang diskriminiert. War eine Frau verstrahlt, hatte sie keine Chance mehr zu heiraten. Denn es hieß, Strahlenkrankheit sei ansteckend. Hintergrund war die strenge Zensur der US-Besatzung in Japan bis 1952: über die Atombomben durfte nicht gesprochen werden. Noch heute gibt es Opfer, die deshalb ihr Leid verschweigen. Das heißt, ihnen wurde doppeltes Leid zugefügt.
Haben die Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki die Entwicklung Japans beeinflusst?
Brandner: Von Hiroshima geht eine Friedensbewegung aus. Ihr Motto lautet „Nie wieder Krieg!“ Andererseits haben sie verhindert, dass sich Japan seiner seit 1931 in Asien begangenen Kriegsverbrechen gestellt hat. Denn das Land fühlte sich als Opfer – auch zu Recht: mit 200.000 Toten durch zwei Bomben. Und in der japanischen Verfassung wurde verankert, nicht an Kriegshandlungen teilzunehmen. Doch gerade in jüngster Zeit gibt es eine Bewegung, die für das Streichen dieses Artikels eintritt.
Interview: Walter AchleitnerTipp: Judith Brandner gestaltet vom 1. bis 4. August ein Radiokolleg über Hiroshima: Ö1, 9.30 Uhr oder 22.40.
Stichwort
Bürgermeister für Frieden
Bei der UN-Abrüstungskonferenz 1982 stellte Hiroshimas Bürgermeister, Takeshi Araki, die Initiative „Bürgermeister für Frieden“ vor. Von Anfang an mit dabei: St. Ulrich bei Steyr. Heute ist sie eine von zwei Gemeinden in Österreich und eine von 1036 in 112 Ländern, die sich für die Abschaffung von Atomwaffen einsetzt. Thaddäus Steinmayr, 1982 als Bürgermeister Initiator der ersten Friedensgemeinde Österreichs, setzte auf den Kontakt nach Hiroshima. Im Friedensdenkmal des Ortes ist die Stadt verewigt. 1984 besuchten zwei Überlebende der Atombombe die oberösterreichische Gemeinde, und mehrfach trat ein Kinderchor aus Hiroshima auf. 1985 folgte die für Steinmayr einmalige Gelegenheit: Vor der ersten Weltkonferenz der „Bürgermeister für Frieden“ in Hiroshima war er eingeladen, die Friedensgemeinde vorzustellen. Die 1986 von ihm organisierte Europa-Konferenz der Bürgermeister schloss mit dem „St. Ulrich Friedensappell“. Und die erste Friedensmedaille, die St. Ulrich 1989 verlieh, ging an Bürgermeister Takeshi Araki. Das Ziel, alle Atomwaffen bis 2020 abzuschaffen, werden die Bürgermeister bei ihrer 6. Weltkonferenz bekräftigen, die vom 4. bis 6. August in Hiroshima stattfindet. Dass aus der Friedensgemeinde daran niemand teilnimmt, bedauert Steinmayr. „Für einen 84-Jährigen wäre das zu viel“, sagt der rüstige Altbürgermeister.