Der Neid ist wie ein Vergrößerungsglas. Was ein anderer hat, ist plötzlich neuer, schöner und größer als der eigene Besitz. Ein Leitartikel von Christine Grüll.
Ausgabe: 2017/35
29.08.2017 - Christine Grüll
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, schrieb Johann Wolfgang von Goethe. Edel, hilfreich und gut, so wollen wir sein. Das streben wir an. Wenn da nicht Charakterzüge wären, mit denen wir uns selbst im Weg stehen.
Der Neid ist so ein Wesenszug. Er ist nicht immer gleich als Neid zu erkennen. Manchmal tarnt er sich als Gerechtigkeitssinn. Wenn andere mehr haben, regt sich das Gefühl, hier bereicherten sich einige auf Kosten vieler. Hier gehe es ungerecht zu. Doch unter dem Mäntelchen Gerechtigkeitssinn lugt gerne der Neid hervor. Es ist das Bedürfnis, selbst zu denen zu gehören, die mehr haben.
Der Neid ist wie ein Vergrößerungsglas. Was ein anderer hat, ist plötzlich neuer, schöner und größer als der eigene Besitz. Doch neidig sein, das will sich niemand vorwerfen lassen. Es fällt schwer, sich den eigenen Neid einzugestehen. Ihn zu entdecken, das Vergrößerungsglas wegzuwerfen und den eigenen Besitz als neu und groß und schön genug zu sehen, das hat etwas mit Freiheit zu tun.
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Das ist er nicht von Anfang an. Das braucht die Bereitschaft, nachzudenken, bis sich eine Erkenntnis einstellt. Sie ist ein guter Baustein auf dem Weg, sich weiterzuentwickeln.