Für Sabine Lutkat, Präsidentin der Europäischen Märchengesellschaft, haben Geschichten einen besonderen Stellenwert. Sie erklärt, warum man Kindern Märchen erzählen soll und dass sie auch für Erwachsene noch bedeutend sein können.
Ausgabe: 2016/16, Märchen, Lutkat
19.04.2016 - Das Interview führte Brigitta Hasch
Wie wichtig sind Märchen für Kinder? Wie beeinflussen sie ihre Entwicklung? Sabine Lutkat: Märchen können Kinder nicht verändern, aber sie geben ihnen eine gewisse Grundstimmung, ein Urvertrauen. Märchen gehen gut aus, damit können Kinder aus schlechten Situationen oder Gefühlen herauskommen und wieder glücklich werden.
Was ist das Bedeutsame daran: die Geschichte, das Ritual rundherum oder die Kommunikation, das Erlernen der Sprache? Lutkat: Voraussetzung ist eine geborgene Grundsituation. Nur dann können Kinder mit Geschichten umgehen, selbst wenn sie gruselig sind oder mit dem Thema „Angst“ zu tun haben. Die Sprachförderung ist ein anderes Lied. Dadurch, dass Märchen eine sehr bildhafte Sprache haben, passiert das auf einer anderen als nur der kognitiven Ebene. Die Kinder lernen durch Märchen, sehr kreativ und sensibel mit der Sprache umzugehen.
Hinter jeder Geschichte verbirgt sich eine Botschaft, etwa „Sei mutig“ oder Ähnliches. Sollte man darüber mit den Kindern reden, oder finden sie das ganz von selbst heraus? Lutkat: Ich würde Kindern die Märchen nicht erklären. Das macht die Geschichte als solches relativ schnell wieder kaputt. Das Kind soll sich selbst aus der Geschichte herausziehen, was es bedeutet. Wenn die Kinder Fragen haben, kommen sie schon von alleine. Gut finde ich, wenn man Kindern Verarbeitungsmöglichkeiten anbietet, immer dem Alter entsprechend, wie etwa malen.
Der Hirnforscher Gerald Hüther meint, dass das Vorlesen von Geschichten die emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern festigt, ihnen Sicherheit gibt. Lutkat: Das schönste Geschenk ist es, wenn Eltern den Kindern Geschichten vorlesen, das hat einen Wert in sich. Ich nehme mir Zeit für dich, mit dir. Dazu kommt das, was Märchen auf besondere Weise auszeichnet.
Videospielen wirft man oft ihre Brutalität vor. Aber auch in Märchen gibt es Gewalt. Was ist daran anders? Lutkat: Kinder können gut trennen zwischen Geschichte und Realität. Ich sage immer, wenn Kinder das nicht könnten, hätte Deutschland keine Frösche mehr, die würden alle an die Wand geklatscht. Im Märchen wird auch nicht beliebig getötet, sondern wenn etwas vernichtet wird, ist es das Böse. Bei Videospielen fehlt die Geschichte mit der Botschaft dahinter. Da wird Gewalt nur als Selbstzweck, um der Gewalt willen, angewendet.
Wie viel Märchen braucht ein Kind? Lutkat: Da kann es nie genug geben.
Hören mit der Kindheit auch die Märchen auf? Lutkat: Überhaupt nicht. Ursprünglich waren Märchen ja Geschichten, die Erwachsene für Erwachsene erzählt haben. Darum ist auch nicht jedes Märchen automatisch für Kinder geeignet, da muss man auswählen. Bei Märchen geht es um grundsätzliche Lebenserfahrungen, wo sich Erwachsene wiederfinden, genauso wie Kinder. Es gibt Märchen in der Erwachsenenbildung, aber auch in der therapeutischen Beratung, im Zusammenhang mit Trauer oder Hospiz. Man kann wunderbar über eigene Werte ins Gespräch kommen, so können Märchen auch im interkulturellen Kontext eine Rolle spielen.
„Es war einmal ... über den Einsatz von Märchen in unterschiedlichsten Feldern“. Sabine Lutkat ist Hauptreferentin bei diesem zweitägigen Märchenkongress vom 29. bis 30. April 2016 im Ländlichen Fortbildungsinstitut (LFI), Auf der Gugl 3, Linz.