Für den überwiegenden Teil der Österreicher ist und bleibt ein Gefängnis eine fremde Welt. Für Diakon Franz Muhr hat sich vor einem Jahr diese Welt erschlossen und er versieht dort mit Freude seinen Dienst als Seelsorger.
Ausgabe: 2017/34
22.08.2017 - Josef Wallner
Franz Muhr geht zur Marienstatue, die in der Kirche der Justizanstalt Wels steht. Er streicht mit der Hand über die Madonna aus Lindenholz – über die Haare und das Herz. „Das Gefängnis ist mein Platz“, sagt er. „Ich bin dankbar, dass ich als Seelsorger hierher kommen darf.“ Die Statue ist erst wenige Monate alt, hat aber eine bewegende Geschichte. Walter G. (Name geändert) hat sie geschnitzt. Vierzehn Jahre verbrachte er bereits in Gefängnissen, mehr als ein Drittel seines Lebens. Wenig Zeit liegt zwischen den Haftstrafen. Das letzte Mal ist er sehr verstört gekommen. Er war in einer ganz schwierigen Phase, erzählt Franz Muhr. Im Gespräch erfuhr der Seelsorger, dass Walter schnitzen kann. Schließlich ermöglichte ihm die Gefängnisleitung, in einer Ecke der Tischlerei seinem Können nachzugehen. Das Ergebnis ist beeindruckend: eine Madonna – mit geschlossenen Augen, die ihr einen nachdenklich traurigen Ausdruck verleihen und mit einem Herz in der Mitte des Körpers. Als Diakon Muhr fragte, was das Herz bedeuten soll, erklärt der Gefangene: „Das seid ihr.“ Er meinte damit die Gefängnisseelsorger Franz Muhr und Franz „Samy“ Schrittwieser: dass sie ihm geglaubt und sich für ihn eingesetzt haben. – Einem Menschen, der in einer psychisch und physisch katastrophalen Situation ist, Schnitzeisen in die Hand zu geben, will überlegt sein. Die beiden Seelsorger machen klar, dass in der Welt einer Justizanstalt mehr zu bedenken und manches komplizierter ist, als man als Außenstehender annimmt. Dass Walter G. durch die Möglichkeit, sich künstlerisch zu betätigen, eine gute Entwicklung nimmt, freut Diakon Muhr und zeigt, wie sehr Zutrauen einen Gefangenen aufbauen kann. Die Madonna ist ein greifbares und sichtbares Zeichen dafür.
Im Geist des Franz von Assisi
Der heute 60-jährige Muhr war bei der Energie AG beschäftigt. Dort konnte er in ein Stufenpensionsmodell eintreten und nutzte die Zeit für die Ausbildung zum Diakon. Bei Exerzitien in Assisi zur Vorbereitung auf die Weihe fragte er sich dann wie der heilige Franziskus: „Herr, was willst Du, dass ich tun soll?“ Die Antwort wurde ihm in der Person von Samy Schrittwieser gegeben, der ebenfalls an den geistlichen Wochen teilnahm. Diakon Schrittwieser geht seit 25 Jahren wöchentlich in die Justizanstalt Wels. Er lud Muhr ein, einmal mitzukommen. Das war vor einem Jahr.
Inzwischen hat Franz Muhr im März 2017 die Diakonenweihe empfangen und die Gefangenenseelsorge ist unter Anleitung von Samy Schrittwieser zu seinem Arbeitsschwerpunkt geworden. Muhr, der in Ohlsdorf lebt, hilft im Dekanat Gmunden in der Liturgie und bei der Sakramentenspendung mit, aber seinen wirklichen Dienst als Diakon sieht er in der Justizanstalt. Einmal wöchentlich kommt er nach Wels, manchmal ein zweites Mal, wenn er am Freitag den „Sonntagsgottesdienst“ mit den Gefangenen feiert. Die beiden Welser Priester, die im Gefängnis Eucharistie feiern, können nicht jede Woche kommen. Die Gottesdienste sind eine wichtige Säule der Gefangenenpastoral. Oft nehmen zwanzig bis 25 Insassen teil und sind immer wieder von der Musik, einem Gebet oder der Heiligen Schrift sehr berührt.
Jede Berufsgruppe ist wichtig
Die Anstaltsleiterin Oberst Teresa Heigert ist um den Einsatz von Diakon Muhr froh: „Mir bedeutet Seelsorge sehr viel. Das ist ein wichtiger Part in der Betreuung der Insassen.“ 156 sind es aktuell, aus 29 Nationen, in der überwiegenden Zahl Untersuchungshäftlinge und Verurteilte, die bis zu eineinhalb Jahren Haft erhalten haben. Ob Wachbeamte, Beamte in den Werkstätten, sozialer Dienst, Seelsorger der verschiedenen Religionsgemeinschaften – „die Verknüpfung untereinander und der gegenseitige Respekt vor jeder Berufsgruppe sind entscheidend“, erklärt Oberst Heigert. Wie ernst es der Anstaltsleiterin mit ihrem Respekt vor jeder Berufsgruppe ist, sieht man am Gürtel von Diakon Muhr. Dort hängt eine Kette mit einem Schlüssel. Mit diesem hat er Zutritt zu den Zellen und kann eigenständig seiner Aufgabe nachkommen: dem Gespräch mit den Gefangenen. „Mich hat überrascht, dass es mir von Anfang an nicht schwer gefallen ist, mit den Häftlingen in Kontakt zu kommen“, erzählt er. Er versucht, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen: „So, dass ich ihr Herz spüre und dass sie mein Herz spüren. Man muss dabei verdammt gut zuhören können.“ Vier bis fünf Gespräche hat er derzeit pro Tag. Bei den ersten Begegnungen geht es nicht um die Tat des Häftlings. „Das kommt, aber später. Ich führe das Gespräch auf Jesus Christus hin. Ich versuche mit ihnen zu beten, einige erlauben mir auch, dass ich sie segne.“
Mit Schuld umgehen
Samy Schrittwieser ergänzt: „Manche suchen beim Seelsorger eine billige Entschuldigung für ihre Tat. Die bekommen sie natürlich nicht.“ Die Frage nach Schuld und wie man damit weiterleben kann, ist nicht einfach zu beantworten. Neben den kleinen Hilfen für den Gefängnisalltag sind vor allem die Seelsorger für dieses Thema da. Schrittwieser betont: „Ich sage den Gefangenen, dass sie eine Würde haben, aber auch, dass sie selbst aus ihrem Leben etwas machen müssen.“ Man kann nachvollziehen, dass die Seelsorgegespräche anstrengend sind. Diakon Muhr nutzt besonders die halbe Stunde Autofahrt zur und von der Anstalt, um zu beten. Die Hinfahrt, um sich zu öffnen und die Heimfahrt um alles in Gottes Hand zurückzulegen. „Wichtig ist, dass ich im Gebet die Gefangenen und auch die Wachbeamten vor Gott bringe. Sie gehören genauso dazu. Die brauchen auch den Segen Gottes.“