In der aktuellen Debatte über Flucht und Migration gehen immer wieder die Wellen hoch. Die Flüchtlings- und Migrationspolitik in Österreich soll vor allem für Menschen, die über das Mittelmeer in die europäischen Länder kommen, verschärft werden. „Tunesien ist zu einem Transitland geworden für afrikanische Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa“, sagt die Don-Bosco-Schwester Maria Rohrer. Sie wirkt seit vielen Jahren in der tunesischen Hauptstadt Tunis und berichtet über die Lage der Flüchtlinge in Nordafrika.
Ausgabe: 2017/30
25.07.2017 - Susanne Huber
Das Getümmel ist groß. Menschenmassen aus Ländern südlich der Sahara bevölkern die nordafrikanische Stadt Tunis. Nicht um zu bleiben, sondern um weiterzuziehen. Ihr Ziel ist Europa. Tunesien ist in den vergangenen Jahren zu einem Durchgangsland geworden für Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika.
Schwarzmarkt
„Unzählige Leute aus dem schwarzafrikanischen Raum, besonders aus der Elfenbeinküste, kommen nach Tunesien, um Geld zu verdienen. Ausländer dürfen hier aber nicht arbeiten, außer sie haben eine Bewilligung vom Staat. Trotzdem sind diese Menschen da und es blüht der Schwarzmarkt“, berichtet Sr. Maria Rohrer. Schwarzarbeit sei eine unsichere Sache, da gäbe es für ein paar Stunden in der Woche Jobs, dann klappt es wieder nicht und die Leute suchen etwas anderes, sagt die gebürtige Schweizerin vom Orden der Don-Bosco-Schwestern, die seit mehr als 40 Jahren in Afrika lebt und arbeitet. Die Ausbeutung dieser Menschen, ob Frauen oder Männer, sei groß, ob im Baugewerbe, in privaten Haushalten als Putzfrauen oder in Restaurants zum Tellerwaschen. „Sobald sie dann genug Geld haben, bezahlen sie die Schlepper, um über das Mittelmeer nach Europa zu kommen.“ Dazu müssen sie nach Libyen, denn hauptsächlich von dort gehen die Schiffe weg.
Ausbeutung
Der libysche Ausgangshafen ist nicht weit entfernt von der tunesischen Grenze. In Libyen herrscht seit 2014 Bürgerkrieg. „Im Land kann jeder machen, was er will. Es existiert eine Mafia von Schleppern, die mit Leuten in anderen afrikanischen Ländern zusammenarbeiten. Dort werden Menschen, die nach Europa wollen, zusammengeholt, nach Libyen gebracht, wo es Auffangstationen gibt, die regelrechte Konzentrationslager sind. Die Leute müssen ihr Geld, ihre Dokumente, ihre Handys abgeben und ihre Schulden für die Tickets nach Europa abarbeiten“, sagt Schwester Maria Rohrer. Es gäbe Berichte von Frauen, die dort ankamen und dann geschlagen, ausgebeutet und verkauft wurden; von Männern, die eingesperrt worden sind, nichts mehr zu essen und zu trinken bekamen, bis sie irgendwie von ihrer Familie doch wieder Geld erhalten haben, das sie dann erneut abgeben mussten. „Es gibt dort kein Zurück mehr, außer sie könnten sich irgendwie befreien und wieder weglaufen. Doch das gelingt selten“, erzählt die Don-Bosco-Schwester.
Grenzschutz
Es gehen auch Schiffe von den tunesischen Häfen Sfax oder Sousse übers Mittelmeer. Doch 90 Prozent der Menschen gelangen über Libyen nach Europa. „Der Grenzschutz in Tunesien wird seit ein paar Jahren vom Ausland mit Schiffen, Helikoptern und Überwachungstechniken unterstützt, um gegen den Terrorismus und gegen die Migration vorzugehen“, erzählt die Ordensfrau. Tunesische Grenzpolizisten werden beispielsweise von deutschen Bundespolizisten ausgebildet, um Flüchtlinge zu stoppen, bevor sie nach Europa kommen. „Sobald die tunesische Küstenwache Bootsflüchtlinge im heimischen Gewässer findet, werden sie hereingeholt – auch jene, die in Libyen auslaufen.“
Begräbnisse toter Gestrandeter
Wenn das Meer Tote an die Küste Tunesiens anspült, kommen sie nach Sfax, dort werden sie von den römisch-katholischen Missionaren der Ordensgemeinschaft „Weiße Väter“ begraben. Das passiert immer wieder. „Die Toten haben keine Papiere bei sich, sind Unbekannte. Die Priester wissen nicht, wer sie sind, aus welchem Land sie kommen, können deren Familien nicht verständigen. Das ist eine harte Aufgabe“, sagt Schwester Maria Rohrer.
Veränderung
Tunesien hat sich seit Beginn der Revolution 2010/2011, dem so genannten Arabischen Frühling, stark verändert. „Vorher war es eine Diktatur. Die Leute trauten sich nicht, öffentlich etwas zu sagen, weil sie nie wussten, ob sie abgehört werden. Dann war plötzlich Redefreiheit; nun streiten die Menschen auch einmal auf der Straße, das gab es vorher überhaupt nicht. Als die ersten Parlamentswahlen durchgeführt waren, stand in den Zeitungen ,Die Demokratie hat gesiegt‘; dabei wissen die Leute hier überhaupt nicht, was das ist. Jetzt müssen sie die Demokratie so entwickeln, dass es zu ihrem Lebensstil, zu ihrer Religion passt. Das ist noch alles im Gang und braucht Zeit.“ Trotz positiver kleiner Entwicklungsschritte ist die Korruption in dem nordafrikanischen Land, das etwa doppelt so groß ist wie Österreich und mehr als 11 Millionen Einwohner hat, immer noch stark präsent und die Wirtschaft liegt am Boden. Der Dinar geht nach unten, die Preise nach oben. „Wir bezahlen jetzt fünfmal mehr für etwas als vor ein paar Jahren. Die Bevölkerung ist nicht zufrieden, es wird gestreikt. Verschiedene ausländische Firmen haben die Koffer gepackt und sind weg, so dass die Arbeitslosenquote sehr hoch ist.“ Auch im Tourismus kam es wegen der instabilen politischen Situation seit 2011 zu einem massiven Einbruch.
Der Traum Europa
Das alles sind Gründe, warum auch immer wieder Tunesier ihre Heimat verlassen wollen. Für sie ist Europa ebenfalls ein Traum. „Sie denken, dort kann man alles haben. Es sind Traumflüchtlinge. Sie träumen von einem Europa, dass es nicht gibt. Sie haben keine Ahnung, wie schwierig die Flucht ist – die Gefahr, in einem Lager ausgebeutet zu werden; die Gefahr zu ertrinken; und wenn sie es bis nach Europa schaffen, wie problematisch es ist, ohne Arbeit, ohne Unterkunft durchzukommen. Wir sind ständig dabei, den jungen Leuten das klarzumachen. Aber da kann man an die Wand reden, es nützt nichts“, sagt die Don-Bosco-Schwester, die sich in Tunesien vor allem um junge Menschen in Not kümmert, die aus dem schwarzafrikanischen Raum nach Tunis kommen, um zu studieren. In einem Jugendzentrum, das vom Hilfswerk „Jugend Eine Welt“ ermöglicht wurde, treffen Studenten aus den verschiedenen afrikanischen Ländern zusammen und es wird ein interkultureller Austausch gefördert. Zukunft. Was es braucht, um das Flüchtlingsproblem in den Griff zu bekommen, sei laut Schwester Maria Rohrer schnell gesagt, aber nicht schnell gemacht: „Es muss alles getan werden, damit es den Leuten gut geht und sie Arbeit haben. Die Bevölkerung des afrikanischen Kontinents besteht zur Hälfte aus sehr jungen Leuten unter 20 Jahren. Die Zukunft des Landes ist menschlich also da, aber es fehlt am Wollen und am Können. Wenn die Leute die Mittel dazu bekommen, dann geht es vorwärts.“ Außerdem sei es eine psychologische Angelegenheit. „Die Menschen aus Afrika meinen, sie seien weniger wert als der Rest der Welt. Hintergrund ist, dass sie die Kolonialherrschaft noch nicht verarbeitet haben, in der sie wirklich unmenschlich behandelt wurden. Das war eine schlimme Zeit.“
Wünsche
Für das tunesische Volk wünscht sich die gebürtige Schweizerin, „dass dieser neue Traum von Demokratie und von einem freien Land, das sich die liebenswürdigen Tunesierinnen und Tunesier so sehr wünschen, weitergehen kann. Dass aber die Leute auch verstehen, dass eine Revolution, bis sie vom Kopf ins Leben geht, noch viel Zeit braucht, Generationen. Und ich wünsche mir, dass die Religion nicht mehr Grund zu Streit ist. Dass niemand mehr im Namen Gottes andere unterdrückt und tötet. Dass das Problem mit Korruption und Schwarzhandel gelöst wird. Es geht aber nicht nur um Tunesien, sondern auch um Libyen. Wenn es dort Frieden gibt, dann hat auch Tunesien seine Ruhe.“ «