Meine Geschichte hat mich gelehrt, wieder aufzustehen
Ausgabe: Not, Armut, Bewegung „Vierte Welt“,
28.07.1998 - Kirchenzeitung der Diözese Linz
Marlies Scheber, Armutsbetroffene aus der Schweiz: Ich komme aus der sogenannten reichen Schweiz. Aber ich gehöre zu denen, die von diesem Reichtum nie etwas hatten. Als ich klein war, hatten wir keine Milch und kein Geld, um welche zu kaufen. Meine Mutter arbeitete Tag und Nacht. Trotzdem reichte es nirgends hin. Das Ganze war zu viel für sie, sie starb mit 46 Jahren. Da sagte der Gemeindepräsident zu meinem Vater, daß ich nun alt genug sei, für mich zu sorgen, ich war 13 Jahre alt. Ich wurde in ein Hotel geschickt. Von morgens 6 Uhr bis abends 10 Uhr stand ich am Abwaschtrog. Mein großer Traum war es, Kinderkrankenschwester zu werden. Aber das war unmöglich, ich hatte ja keine Schulbildung. Später heiratete ich. Die Ehe zerbrach an unseren finanziellen Sorgen. Dann stand ich mit drei Kindern allein da, ohne Geld. Nun mußte geklärt werden, ob die staatliche Sozialhilfe mich unterstützen würde, und das dauerte lange. Meine Kinder hatten Hunger. So ging ich zum kirchlichen Sozialdienst. Dort sagten sie mir: „Sie müssen zuerst die richtigen Unterlagen haben.“ Da war ich so verzweifelt, daß ich hinauslief und rief: „Gut, dann gebe ich meinen Kindern eben die Unterlagen zu essen!“ In einem nahegelegenen Hotel fragte ich, ob ich jeweils nach dem Mittagessen die Reste der Mahlzeiten abholen dürfe. Auf diese Art haben wir ein halbes Jahr gelebt.Die finanzielle Not war schlimm, aber noch schlimmer war es, von allen als minderwertig angesehen zu werden. Denn in diesem reichen Land gilt Armut als Schande. Die Leute finden: Wer arm ist, ist selber schuld. Ein Fürsorger sagte zu mir: „Arm gleich dumm.“Aber meine Geschichte hat mich nicht nur niedergedrückt, sondern auch gelehrt, wieder aufzustehen. Als ich am verzweifeltsten war, habe ich die Bewegung „Vierte Welt“ kennengelernt. Dort habe ich erlebt, daß ich respektiert werde. In der Gemeinschaft mit anderen Armen habe ich erfahren, daß ich nicht alleine bin. Ich habe entdeckt, daß ich eine Stimme habe, mich ausdrücken kann. So habe ich mein Selbstvertrauen wiedergefunden. Heute ist es mir wichtig, für die noch Ärmeren einzustehen. Meine Geschichte ist die vieler anderer. Ich möchte sprechen für alle, die keine Kraft mehr haben, für sich einzustehen.Marlies Scheber, Schweiz