Ausgabe: Bergbauunglück, Lassing, Paul Scheichenberger
21.07.1998 - Kirchenzeitung der Diözese Linz
Der Pfarrer des Ortes Lassing, Paul Scheichenberger, schreibt für die Kirchenzeitung:„Die Heilige Barbara hat uns verlassen, der Georg (Hainzl) ist eingesperrt! Zehn Leute sind in die Grube nachgefahren, sie geben kein Zeichen mehr; der Lift ist abgestürzt. Häuser versinken, die Straße ist weg. Paul, du mußt kommen, wir brauchen dich alle…“.Ich befand mich gerade auf den Spuren des Jakobsweges im spanischen Soria, als mich diese Botschaft in der Nacht von Freitag auf Samstag erreichte. Zutiefst betroffen wollte ich nur noch heim nach Lassing. Im Flugzeug die ersten Zeitungen mit Bildern und Berichten von zuhause. Drei Uhr früh am Sonntag: Ich stehe vor dem Krater. Die Liste der Betroffenen wird mir in die Hand gedrückt. Fast alle kenne ich persönlich. Nun: starre Blicke, Tränen, Achselzucken. Auf vielfältiges Unverständnis und tiefe Abneigung stößt der einsetzende Medienrummel. Die Menschen wollen mit ihrer Verzweiflung und ihrem Beten allein sein und keine Quotensteigerung fürs Fernsehen abgeben. Mir selbst sind die Medien aber auch Hilfe. Über Radio kann ich erste Maßnahmen ankündigen.Die Medien fallen aber auch über mich her; Fragen, Fragen. „Was werden Sie heute Abend beim Bittgottesdienst sagen?“ Ja, wenn ich das nur wüßte. Um 14 Uhr habe ich alle betroffenen Familien zu mir eingeladen, ohne Medien. Ein perverses Katz- und Mausspiel mit überall auf der Lauer liegenden Kameras und Mikrophonen beginnt. Ich habe gewonnen: Wir sind allein. Niemand kann mit dieser Situation umgehen. Gebrochen erzählen sie. Die meisten Ehefrauen sind schon dabeigewesen, wie die Rettungsmannschaft in den rutschen Berg fuhr. Von blanker Angst ist die Rede, von Kameradschaft und Familiensinn unter den Knappen. „Denk an uns, mach keinen Blödsinn, wir brauchen Dich“, haben sie ihnen noch nachgerufen. Dann das Furchtbare: keine Lebenszeichen mehr, Wasser und Schlamm bricht in den Stollen, Häuser versinken. „Alles mußte zurück, fassungslos standen wir vor dem ,sichersten Bergwerk‘ Europas“.Die Stimmung wird heftiger, alles mögliche kommt jetzt zutage. Meine Kräfte, die Emotionen zu bändigen, sind ermattet. Mein Gott! Werden diese Menschen in den nächsten Jahren zerbrechen oder kann Heilung geschehen? Alles emotionalisiert sich plötzlich um den von mir anberaumten Gottesdienst am Sonntagabend. Zig Medienleute sind im Anmarsch. Sie werden nicht in die Kirche gelassen. Erstmals kommen die Menschen eineinhalb Stunden zur Ruhe. Angeblich soll das Leiden der Fels des Atheismus sein. Ich spüre aber nur eine Welle der Gottesfrage. Schmerzpillen gegen die Traurigkeit kann und will ich keine geben. Seelisch wurde das ganze Dorf verschüttet. Jeder schreit in seinem eigenen Stollen nach Hilfe. Wo sind hier die Lebensretter?!Wie graben wir uns zueinander durch? Will Gott uns nicht mehr? Herrgott, was haben wir dir getan? Sind wir so schlechte Menschen? Wird doch noch ein Wunder geschehen?„Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, sodaß es zu sinken drohte…“ – das Evangelium, Worte aus einer anderen Welt? Beim Meßopfer beuge ich mich dem schrecklichen und herrlichen Gott. Ich spüre, wie sich die Menschen mitbeugen. Eine kurze Zeit wenigstens.Im Rückblick: Das größte Bergbauunglück Österreichs seit 1945 begann am Freitag, 17. Juli, um 12.15 Uhr. Durch einen Wasser- und Schlammeinbruch wird der Bergmann Georg Hainzl 60 Meter unter Tag eingeschlossen. Bis 15 Uhr gibt es Sprechkontakt. Um 20 Uhr erkundet eine Gruppe unter Tag Rettungsmaßnahmen. Um 22 Uhr fahren zehn Rettungsmänner ein und werden kurz darauf verschüttet. In dem riesigen Krater verschwinden vier Häuser. Samstag, Sonntag und Montag: Krisensitzungen und verzweifelte Rettungsbohrversuche. Sonntag auf Montag: Bittgottesdienst und Gebetsnacht.