„Ohne Freiwillige und Hilfsorganisationen wäre Österreich gescheitert“
Die Flüchtlinge werden ziemlich sicher ein Thema des Wahlkampfes im Herbst sein – obwohl die Asylwerberzahlen heuer wieder sinken. Im Rückblick auf die Zeit der großen Herausforderungen 2015/16 schreibt Ferry Maier, damals an leitender Stelle in der Flüchtlingskoordination, in dem Buch „Willkommen in Österreich?“ eine kritische Analyse darüber, wie Österreich die „Flüchtlingskrise“ bewältigt hat.
Ausgabe: 2017/25
20.06.2017 - Interview: Heinz Niederleitner
Zwei Jahre sind vergangen, seit 2015 hunderttausende Flüchtlinge nach und durch Österreich zogen. Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert. Ist die Willkommenskultur heute völlig verschwunden? Ferry Maier: Zunächst muss man aufpassen, weil der Begriff „Willkommenskultur“ oft von ihren Gegnern in einem negativen Sinn gebraucht wurde. Zweifellos besteht der Eindruck, dass sich die Haltung in der Bundesregierung seit damals von einer Willkommenskultur zu einer Abschiebekultur gedreht hat. Mich ärgert dabei, dass nicht erkannt wird, wie viele Freiwillige heute noch in Österreich für Flüchtlinge aktiv sind. Unverständlich ist mir auch, warum es nie ein wirkliches Danke für all jene gegeben hat, die sich insbesondere in den schwierigen Monaten 2015 engagiert haben.
Wäre die Bewältigung der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 und danach ohne die Freiwilligen und die helfenden Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), möglich gewesen? Maier: Ohne sie wäre Österreich gescheitert. Ich war beeindruckt von der hohen Professionalität der Hilfsorganisationen und dem großen Engagement der Menschen, die auf die verschiedenste Art geholfen haben. Erinnern wird uns: Wir erlebten die Durchreise von einer knappen Million Menschen durch Österreich, die sich jeweils drei bis sechs Tage bei uns aufgehalten haben. Sie kamen von der Balkanroute und aus Ungarn und haben in Österreich Betreuung bekommen – von Nahrung über medizinische Hilfe bis Kleidung.
Im Gegensatz zu den Hilfsorganisationen loben Sie in Ihrem Buch staatliche Behörden nur wenig, Kritik gibt es aber viel. Warum? Maier: Hier fehlte es an Knowhow. Viele Behördenvertreter waren und sind nicht dafür ausgebildet, solche Ausnahmesituationen zu bewältigen. Die Beamten in den Ländern waren sehr konstruktiv. Jedoch hatte ich den Eindruck, dass die Behörden unterbesetzt und deshalb überfordert waren.
Ihren Ausführungen zufolge klappte die Zusammenarbeit mit den Bürgermeistern besser als mit der „höheren Politik“. Gibt es dafür Gründe? Maier: Je näher die potentiellen Helfer/innen den Flüchtlingen waren, desto weniger wurden die Probleme betont; je weiter weg Einrichtungen waren, desto größer wurden die Probleme gezeichnet. Es zeigen ja auch Umfragen, dass die Ablehnung gegenüber Flüchtlingen gerade dort gering ist, wo welche leben – und umgekehrt. Meines Wissens waren von der Staatsspitze damals nur der Bundespräsident, der Kanzler, der Vizekanzler und die Innenministerin im Flüchtlingslager Traiskirchen, das ja einer der zentralen Orte war.
Die Hilfsorganisationen mussten sich nach der härtesten Zeit im Flüchtlingseinsatz Vorwürfe anhören. Da hieß es etwa, sie würden mit den Flüchtlingen ganz gut verdienen ... Maier: Es sollte doch klar sein, dass NGOs für Leistungen, die sie erbringen, auch entsprechend bezahlt werden. Befremdlich war, als plötzlich die Idee auftauchte, die Organisationen sollten ihre Spenden offenlegen, damit man die staatlichen Zahlungen um diesen Betrag zurückfährt.
Spätestens nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln wurden jene, die sich für Flüchtlinge einsetzten, plötzlich als naiv beschimpft. Was sagen Sie dazu? Maier: Natürlich waren und sind Taten wie jene in Köln schrecklich. Ich bin mir sicher, dass es in jeder Gruppe einen Prozentsatz von Menschen gibt, die strafrechtlich auf die eine oder andere Art auffällig ist. Darüber wird nicht groß berichtet. Auch bei den Flüchtlingen gibt es diesen Prozentsatz, er mag – je nach Hintergrund – etwas höher sein. Der Unterschied ist, dass die Aufmerksamkeit viel höher ist, wenn ein Flüchtling etwas verbricht. Das spielt jenen in die Hände, die gegen Flüchtlingshilfe sind.
Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, Bleibeberechtigte zu integrieren. Was könnte man da organisatorisch verbessern? Maier: Wichtig wäre zum Beispiel eine bundesweit einheitliche Datenerfassung dieser Menschen, damit man sie gezielter integrieren und zum Beispiel Deutschkurse besser organisieren kann. Bei diesem Thema fällt zudem auf, dass es ja auch vor 2015 Flüchtlinge gab, wir aber erst jetzt von Integrationsmaßnahmen im großen Stil sprechen. So wird deutlich, was in diesem Bereich über Jahre versäumt wurde.
Aus der Politik hört man immer wieder, dass zu gute Bedingungen Menschen ins Land zieht. Stimmt das? Maier: Das ist ein „Totschlagsargument“, das dazu führt, möglichst nichts zu machen. Man hat ja auch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel vorgeworfen, die Menschen ins Land geholt zu haben. Wenn man aber weiß, dass es schon 2011 einen Bericht des Heeresnachrichtendienstes gab, der für die Jahre um 2015 große Flüchtlingsbewegungen voraussagte, wird klar: Diese Argumentation ist Unsinn. Die Menschen kommen, weil die Lage in ihrer Heimat so schlecht ist.
Stehen Politiker bei der Flüchtlingshilfe nicht auch deshalb auf der Bremse, weil sie fürchten, dafür vom Wähler abgestraft zu werden? Maier: Es gibt zu wenige selbstbewusste Politiker, die mit dem Thema offensiv umgehen wollen. Das Thema wird eher weggeschoben. Ob das lösungsorientiert ist, stelle ich in Frage. «
Zur Person
Dr. Ferdinand „Ferry“ Maier
Von September 2015 bis September 2016 war der frühere Nationalratsabgeordnete und Raiffeisen-Manager neben Christian Konrad als Flüchtlingsbeauftragter der Bundesregierung tätig. In einem Buch zieht er nun eine Bilanz, wie Österreich mit der Flüchtlingskrise umgegangen ist.
Ferry Maier/Julia Ortner: Willkommen in Österreich? Was wir für Flüchtlinge leisten können und wo Österreich versagt hat. Tyrolia Verlag, 175 Seiten, 19,95 Euro. ISBN 978-3-7022-3617-5