Sucht ist eine allgemeine gesellschaftliche Erscheinung, die sich nicht auf Drogenmissbrauch und die damit verbundene Kriminalität beschränken lässt: Angesichts von Alkohol- und Zigarettenabhängigkeit, aber auch Spiel-, Internet- oder Handysüchten ist praktisch jeder in seinem Umfeld damit konfrontiert, sagt der bekannte Suchtexperte Reinhard Haller im Interview. Und das Problem wird größer.
Ausgabe: 22/2017
30.05.2017 - Heinz Niederleitner
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO gehört Österreich zu den Ländern mit starkem Alkoholkonsum. Warum ist das so?
Reinhard Haller: Das hat verschiedene Gründe: Alkohol ist bei uns die „Kulturdroge“ schlechthin. Bei Wein und Bier haben wir eine hohe Produktion, damit auch viel Konsumation und darunter auch Missbrauch. Es spielt zudem eine Rolle, dass wir ein Tourismus- und Wohlstandsland sind.
Oft wird ein Zusammenhang zwischen steigendem Stress und steigendem Alkoholkonsum in der Gesellschaft hergestellt. Gibt es diese Verbindung wirklich?
Haller: Unzweifelhaft. Angesichts von Beschleunigung und Überschleunigung nehmen Menschen Alkohol als Entspannungs- und Beruhigungsmittel. Dazu kommt eine Zunahme von Störungen wie Burn-out und depressiven Zuständen. Da wird der Alkohol in einer Art „Selbstmedikation“ genommen.
Alkohol gilt als „legale Droge“. Der Besitz von anderen Drogen ist dagegen strafbar, was bei manchen Substanzen immer wieder hinterfragt wird. Was sagen Sie zu Legalisierungsdiskussionen?
Haller: Mit gesetzlichen Maßnahmen kann man das Suchtproblem regulieren, aber nicht lösen. Wir kennen ja alle drei Wege: Bei legalem Alkohol und legalen Zigaretten werden die Toten im Straßenverkehr oder die Folgeerkrankungen in Kauf genommen. Der Weg der kontrollierten Freigabe über Ärzte funktioniert nur begrenzt, wenn man die Zahl von medikamentenabhängigen Menschen berücksichtigt. Perfekt ist auch das Verbotsmodell nicht, wobei man nüchtern sagen muss, dass es Auswirkungen auf die Dimensionen hat: Jährlich gibt es in Österreich zwischen 10.000 und 12.000 Todesfälle aufgrund des Rauchens, 2000 bis 2500 Tote durch Alkohol und 150 bis 200 Drogentote. Aber das persönliche Drogenproblem können jeweils nur die Betroffenen selbst lösen. Früher gab es den Spruch: Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Entsprechend wäre das Ideal bei den Drogen: Stell Dir vor, es gibt alle Drogen legal, billig und in hoher Qualität – aber keiner nimmt sie.
Im Gegensatz zu Drogensüchten scheinen Verhaltenssüchte weniger ernst genommen zu werden. Der arbeitswütige Workaholic ist ja vom Ideal des Fleißigen nicht weit entfernt.
Haller: Jedes menschliche Verhalten kann süchtig machen und die Möglichkeiten dafür nehmen zu: Vor dreißig Jahren gab es kein Handy und kein Internet, nach dem Menschen süchtig sein konnten. Verhaltenssüchte erfüllen alle Kriterien der Sucht: das eingeengte Verhalten, die Zentrierung des Denkens, die Entzugserscheinungen und so weiter. Körperliche Folgen gibt es nicht sofort, mittelfristig sehr wohl. Mit Ausnahme der Spielsüchtigen, die unter Schulden leiden, liegt die Belastung durch Verhaltenssüchte aber oft nicht bei den Süchtigen, sondern bei ihrem Umfeld. Denken wir an Eltern eines internetsüchtigen Kindes, das sich aus der Familie praktisch „abgemeldet“ hat. Weil die Süchtigen nicht selber stark leiden, ist ihre Behandlungsbereitschaft, die bei Suchtkranken generell nicht sehr hoch ist, besonders niedrig.
Der Prophet Kohelet im Alten Testament experimentierte auf seiner Sinnsuche mit Alkohol – vergeblich. Was suchen Menschen in der Sucht?
Haller: Sie suchen das, was ihnen nüchtern fehlt: Der Zurückhaltende traut sich was, der Gehetzte wird entspannt, der Traurige fröhlich. Mit der Frage „Wie verändern Sie sich im Rausch?“ bekommt man oft Hinweise darauf, was das Problem hinter der Sucht ist.
Sie schreiben in Ihrem neuen Buch von Mitleid mit dem Süchtigen. Nimmt die Einstellung, der Süchtige sei selber schuld, in der Gesellschaft ab?
Haller: Das wird langsam besser. Es wird heute öfter erkannt, dass sich Sucht in Bezug auf das eigene Zutun nicht von anderen Zivilisationskrankheiten unterscheidet: Wenn sich heute jemand falsch ernährt oder zu wenig bewegt, tut er das genau so wenig mit böser Absicht wie der Suchtkranke seiner Sucht nachgeht. Deshalb kann man nicht von Schuld sprechen – niemand will süchtig sein. Wichtig ist, die eigene Verantwortung zu übernehmen: Denn der Unterschied zu anderen Krankheiten ist, dass der Suchtkranke seine Heilung selbst in der Hand hat.
Der erhobene Zeigefinger bringt also nichts?
Haller: Sucht wird neben der Depression eine der großen Krankheiten der Zukunft sein. Schon heute hat rein statistisch jeder von uns einen Suchtkranken in seinem Umfeld. Umso wichtiger ist es, nicht mit Vorurteilen zu reagieren, sondern den Weg zur Hilfe zu ebnen. Dass eine Suchterkrankung ausheilt, ist weit öfter der Fall, als gemeinhin angenommen wird. Auch bei chronischem Verlauf hilft die Therapie. Wichtig ist, die Scheu vor dem Psychiater abzulegen. Bei körperlichen Gebrechen suchen wir den Arzt auf, bei einem so komplexen Organismus wie der Seele heißt es dann aber, man gehe doch nicht zum „Seelenklempner“.
Apropos Seele: Kann auch Seelsorge helfen?
Haller: Den Gegensatz zwischen Therapeuten und Seelsorgern halte ich für unnötig und schädlich, denn das eine schließt das andere nicht aus. In manchen Bereichen hat die Psychologie die besseren Methoden. Aber wenn jemand vereinsamt lebt und fragt, für wen er denn auf den Alkohol verzichten soll, sind wir in der Psychologie rasch am Ende mit unserem Latein. Ein religiöser Mensch kann dagegen im Verzicht selbst einen Sinn, ein Opfer sehen. Der höhere Sinn dahinter ist eine Dimension, die wir einfach wahrnehmen sollten. «
Zur Person und zum Buch
Primar Prof. Dr. Reinhard Haller ist Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene in Frastanz, das sich unter anderem der Suchtbehandlung und der Suchtprävention widmet. Er lehrt an der Universitätsklinik Innsbruck. Daneben ist er auch als Gerichtsgutachter und als Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher bekannt. Eben als Aktualisierung des Buches „(Un)Glück der Sucht“ ist von Haller erschienen: „Nie mehr süchtig sein. Leben in Balance“. (Ecowin Verlag, 244 Seiten)