Die ÖVP hat mit viel Aufregung den Obmann und parteiinterne Regeln ausgetauscht. Die SPÖ akzeptiert, dass es Neuwahlen im Herbst geben wird. Über die Übergangszeit und die politische Kultur im Land spricht die Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle im Interview.
Ausgabe: 2017/20
16.05.2017 - Heinz Niederleitner
„Versagen“, „geht über Leichen“, „die Totengräber warten schon“ waren Sager der politischen Diskussion und Berichterstattung vergangene Woche. Ist der Ton in der Politik rauer geworden?Kathrin Stainer-Hämmerle: Man sollte die Vergangenheit nicht verklären. Früher war der Ton auf Wahlplakaten oder in Parteizeitungen auch recht heftig und die Parteien haben sich nie viel geschenkt. Heute findet sich diese Unkultur allerdings ebenso in der politischen Auseinandersetzung zwischen Bürgern, da jeder die Möglichkeit hat, ohne Schwelle über die neuen sozialen Medien seine Meinung zu publizieren. Je provokanter und je angriffiger, desto mehr Aufmerksamkeit erhält man dort. Wir sollten uns Sorgen über diese Dynamik mit den hemmungslosen Stammtischmeinungen im Internet machen.
Caritas-Präsident Michael Landau hat am Sonntag zu Respekt im kommenden Wahlkampf aufgerufen (siehe unten "Bewegte Zeit"). Was ist da zu erwarten?Stainer-Hämmerle: Die Spitzenkandidaten der Parteien rittern um den Kanzlersessel. Sie müssen sich regierungs- und kanzlertauglich präsentieren und aufpassen, welche Töne sie anschlagen: Einen Schreihals wählt kaum jemand zum Kanzler. Die Mobilisierung über Emotionen erfolgt daher im Hintergrund und auf einer anderen Ebene. Beliebt ist zum Beispiel, „Geschichten“ über den Kontrahenten durch die sozialen Medien in Umlauf zu bringen, egal ob sie nun wahr sind oder nicht. In anderen Ländern haben wir das schon erlebt: Emmanuel Macron, dem neuen französischen Präsidenten, wurde zum Beispiel auf diesem Weg im Wahlkampf eine homosexuelle Beziehung unterstellt. Wer allerdings Absender derart gezielter Desinformation ist, lässt sich kaum feststellen.
In den letzten Tagen wurde in der Politik sehr viel über Personen gesprochen. Sachpolitik wird meist wenig behandelt, hat aber weit mehr Auswirkungen auf die Bürger/innen. Ist das nicht ein Schaden für die Demokratie?Stainer-Hämmerle: Hier ist es schwer, einen alleinigen Schuldigen auszumachen: Es gibt da einen Mechanismus zwischen Parteien, Medien und Bürgern. Die Parteien machen das, was ihnen die meisten Punkte bei Medien und Bürgern bringt. Einen gewissen Grad an Opportunismus muss man ihnen da auch zugestehen. Natürlich ist es mühevoller, Inhalte zu kommunizieren. Die Medien berichten stärker über Personen und Streitereien als über Sachthemen, weil sie denken, dass es die Menschen mehr interessiert. Auch sie müssen sich an der Nase nehmen: Wem wird die Bühne zu welchem Zweck geboten? Am Schluss stehen der Bürger und die Bürgerin, die von der Politik und den Medien mehr Sachthemen verlangen könnten und sich fragen müssen: „Bin ich bereit, mich mit Inhalten auseinanderzusetzen?“ Alle drei Ebenen – Politiker, Medien, Bürger – wären da gefordert.
Wagen wir eine Ferndiagnose: Der Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen hat im Vergleich zu den Vorgängen in Österreich einen sachlicheren Eindruck gemacht. Wie stark es in der Diskussion um Sachthemen geht, hängt also auch mit der politischen Kultur zusammen.Stainer-Hämmerle: Ja, aber eben auf vielen Ebenen, nämlich bei den Politikern, in der Medienlandschaft und bei den Bürgern. In Deutschland findet bereits eine ganz andere Form der politischen Bildung in den Schulen statt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlangten die Alliierten von Deutschland „Re-Education“-Maßnahmen zur Demokratisierung der Bevölkerung. Österreich konnte sich damals als „Opfer Hitlers“ darstellen und entging somit diesem Druck. So wurden die Gelder für politische Bildung in Österreich nach Proporz an die Parteiakademien verteilt, während sie in Deutschland in politische Bildung, Sozialwissenschaften und Medien geflossen sind. Das erklärt das Nachhinken in Österreich. Es ist wie bei der Integration: Die Dinge, die man jahrelang verabsäumt, fallen einem irgendwann auf den Kopf.
In den vergangenen Tagen ist im Zusammenhang mit den Veränderungen bei der ÖVP das Wort „Bewegung“ aufgetaucht. Diese solle über die eigentliche Partei hinausgehen, sie breiter aufstellen und öffnen. Stehen wir am Ende der Parteiendemokratie?Stainer-Hämmerle: Ich will die Parteien nicht verteidigen, denn sie haben selbst viel dazu beigetragen, dass sie heute nicht mehr so viel Vertrauen wie früher genießen: Ihre Personalentscheidungen sind intransparent, der Kontakt zu den Bürger/innen ging verloren und zu oft standen Parteitaktik und Machterhalt im Vordergrund. Dennoch sind klassische Parteien für eine Demokratie wichtig. Erstens sind rein personenorientierte Bewegungen ideologisch sehr beliebig. Parteien stehen mit ihrer Geschichte für die Tradition ihrer Programme, auch wenn diese immer wieder angepasst und aktualisiert werden müssen. Aber wenn heute ein Politiker mit sehr unbestimmten Inhalten um Stimmen wirbt, dann weiß ich nicht, wie er sich in konkreten politischen Entscheidungsfragen verhalten wird. Der zweite kritische Punkt bei sogenannten Bewegungen ist, dass sie dazu neigen, den internen Pluralismus und die Prozesse des Ausverhandelns zu übergehen.
Seitens der Regierungsparteien steht im Raum, bereits ausverhandelte politische Entscheidungen trotz der anstehenden Neuwahl bis zum Sommer umzusetzen. Ist das mehr als Taktik? Stainer-Hämmerle: Es geht um reine Schuldzuweisung: Wer verhält sich verantwortungsvoll und wer trägt Schuld am Platzen der Koalition. Es heißt, wer die Neuwahlen vom Zaun bricht, hat bei der Wahl dann das Nachsehen. Das muss zwar nicht so sein, aber eine Argumentation werden wir den ganzen Wahlkampf hören: Die anderen haben konstruktives Arbeiten verhindert. Zudem stellt sich die Frage, welche politische Materien in der Koalition bisher wirklich soweit ausverhandelt wurden, dass sie jetzt noch beschlossen werden könnten. Das wird sich nun zeigen. «
Zur Sache
„Bewegte Zeit“
Caritas-Präsident Michael Landau hat sich am Sonntag im Zuge eines Gottesdienstes im Stephansdom zur politischen Lage im Land geäußert: „Als Bürger wünsche ich mir, dass auch in Zeiten des Wahlkampfs der Maßstab des Respekts und der Achtung vor der Würde des anderen nicht verloren gehen darf“. Österreich gehe derzeit durch eine bewegte Zeit.
Landau hatte zuvor bereits den zurückgetretenen Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner als „stets verlässlichen Ansprechpartner zu sozialpolitischen Themen“ gewürdigt. Auch Kardinal Christoph Schönborn sagte, mit Mitterlehner verliere Österreich „einen Spitzenpolitiker, für den die Zusammenarbeit aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte für das Gemeinwohl oberste Priorität hatte“. Mitterlehner habe viel dazu beigetragen, dass Österreich in wirtschaftlichen und sozialen Belangen ein Vorbild sei, sagte Schönborn.