Wort zum Sonntag
Als Edo zehn war, starb sein Vater. Mit zwölf konnte er dem Sog seines vierzehnjährigen Bruders nicht mehr widerstehen und begann, sich mit Alkohol und Kokain zu betäuben. In den folgenden Jahren trug er verschiedene Masken, lebte mehrere Leben nebeneinander: in der Familie, am Arbeitsplatz, unter Freunden.
Er arbeitete im Einzelhandel, später in der Produktion und erreichte trotz seiner Sucht einen Studienplatz der Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Mainz. „Es lief nicht alles schief“, erinnert sich Edo Sergo heute. Doch die Drogen hatten Auswirkungen auf seine beruflichen und schulischen Leistungen.
Mit 30 kam der Zusammenbruch. „Ich war in der Nähe von Mostar in Bosnien-Herzegowina, um die Hochzeit meines besten Freundes zu besuchen. Dort wurde ich rückfällig. Es war die schlimmste Woche meines Lebens. Ich war am Boden zerstört und wollte nicht mehr weiterleben. Dann habe ich entschieden: Es reicht!“
Die Familie des Freundes riet Edo Sergo, Kontakt mit der Gemeinschaft Cenacolo aufzunehmen. Ein Haus der weltweiten Gemeinschaft befindet sich in Medjugorje, nur 30 km von Mostar entfernt. Dort trat der junge Mann vor zweieinhalb Jahren ein. Wie es in der Gemeinschaft üblich ist, lernte er Italienisch, die gemeinsame Sprache der international gemischten Männergemeinschaften.
Unter den 70 Cenacolo-Häusern gibt es aber auch Gemeinschaften von Frauen, die aus einer Sucht aussteigen wollen. Nach einigen Monaten übersiedelte Edo ins Mutterhaus des Cenacolo nach Saluzzo, in eine kleine Stadt 50 km südlich von Turin. Seit gut einem Jahr lebt er nun in Kleinfrauenhaid, nicht weit von Eisenstadt.
„Wir waren alle an einem Punkt, wo es nicht mehr weiterging“, sagt Bruder Georg Schwarz, der Hausverantwortliche im einzigen Cenacolo-Haus Österreichs. Auch er ist ehemaliger Suchtkranker. Bei ihm war es der Alkohol. „Es ist manchmal notwendig, ganz unten zu sein, bevor man aufstehen kann. In einer mittelschweren Phase wäre ich nicht hergekommen.“ Vor 23 Jahren ist er eingetreten, seit 18 Jahren lebt er im Cenacolo Kleinfrauenhaid, der in diesen Tagen sein 25-Jahr-Jubiläum feiert.
Mit „Gemeinschafts-Papa“ kann man Bruder Georgs Rolle wohl umschreiben. Als Leiter des Hauses will er nicht bezeichnet werden. Mutter Elvira, die Cenacolo-Gründerin, war erfüllt von der Idee, dass Freundschaft, Arbeit und Gebet in der Gruppe am sichersten aus der Krise führen. Dazu soll niemand aus der Gruppe eine Stufe höher stehen als die anderen. „Sonst kommst du auch nicht heran an die Jungs“, meint Bruder Georg. „Unser Altersunterschied ist schon schwierig genug. Viele haben verletzende Erfahrungen mit Autorität gemacht.“
Eine Hauptaufgabe sieht Bruder Georg darin, den „Jungs“ zu vertrauen. „Es ist das Schönste, was es gibt. Ich musste es lernen. Früher konnte ich mir nicht einmal selbst vertrauen.“ Das Vertrauen in Jesus Christus und in jeden einzelnen Menschen ist im Cenacolo zentral. „Ohne Vertrauen wäre das Haus keine Familie, sondern eine Kaserne.“
Es gibt keinen Zwang, wie Bruder Georg betont. „Wir haben keinen Zaun um das Haus und keinen Schlüssel in der Tür. Jeder kann jeden Tag gehen. Interessanterweise tun sie es nicht. Wichtig ist die Einsicht, dass ich mein Leben ändern darf, nicht ändern muss.“ Das heißt aber nicht, dass der Tagesablauf im Cenacolo frei gewählt werden kann.
Der Eintritt ist freiwillig, der Austritt ist freiwillig, dazwischen gelten klare Regeln. Die Struktur gibt den vorwiegend jungen Männern Halt. „Wir haben den Lebensstil nicht neu erfunden. Was wir machen, haben die Mönche schon vor 1.500 Jahren gemacht“, erklärt Bruder Georg. Beten, arbeiten, fasten sind feste Säulen des Lebens im Cenacolo.
Edo Sergo teilt sich einen Schlafraum mit sieben anderen Männern. Wenn um 6 Uhr Früh der Wecker läutet, heißt es schnell sein. Zehn Minuten später sind alle 30 Bewohner des Hauses in Kleinfrauenhaid in der Kapelle zum Gebet versammelt. Zähneputzen, rasieren, anziehen, da sitzt jeder Handgriff. Der Alltag in Gemeinschaft bietet auch Reibungsflächen, weiß Bruder Georg aus Erfahrung. „Die Gemeinschaft kann dich von früh bis spät nerven. Das ist hart. Aber es ist lebensfördernd. Vom Aufstehen bis zum Gebet hast du vielleicht schon zehn Situationen, die du in 20 Therapiestunden nicht aufarbeiten könntest, und kommst geladen in die Kapelle.“
Das kennt auch Edo, aber er hat gelernt, mit sich selbst im Frieden zu sein. Das wiederkehrende Beten des Rosenkranzes und die nächtliche Anbetung helfen ihm dabei. „Wenn ich im Frieden bin, fällt das Rundherum nicht ins Gewicht.“ Dann gibt es wieder Tage, „wo ein anderer das Glas am falschen Ort abstellt und man explodiert schon“.
Dreimal am Tag beten die Männer Rosenkranz, dazu gibt es Lesung aus der Heiligen Schrift und Austausch darüber, wo es Reibungsflächen gibt. „Wir sagen uns gegenseitig die Wahrheit, treiben uns auch gegenseitig an“, erzählt Edo. Wenn sich einer mit dem Gebet schwertut, bitten wir ihn um Vertrauen, sagt Bruder Georg: „Wir vertrauen dir, bitte vertrau auch du und bete einfach mit.“ Vom Gebet wegzubleiben, kann sich keiner leisten, weil er von den Mitbrüdern gefragt würde: „Was ist los? Wo warst du?“
Der Tonfall unter den Jugendlichen ist manchmal rau, schildert Bruder Georg – aber ehrlich. Und das sei gut so, denn „wer Drogen benützt, ist ein Meister der Lüge“. Dass hier im Haus alle diese Erfahrung haben, sei sehr förderlich. „Wir haben alle gelogen. Wir sind 30 Ex-Süchtige. Die anderen sind auch so schlau wie du! Da kannst du nicht einmal ein Stück Schokolade heimlich essen.“
Die Sucht nach Substanzen, häufig kombiniert mit Internetsucht, Spielsucht oder auch Magersucht, die bei Burschen wie bei jungen Frauen zunehme, sei aber nicht das eigentliche Problem, sondern würden dahinterliegende Probleme nur sichtbar machen, erläutert Bruder Georg. Daher liegt der Fokus im Cenacolo nicht auf der Frage, wonach jemand süchtig ist. Vor dem Eintritt in die Gemeinschaft machen viele einen medizinischen Entzug. „Es ist sehr sinnvoll, den Dreck hinauszubekommen. Wir sind nicht gegen die Wissenschaft. Es geht nur miteinander.“
Allerdings erreiche der Entzug nicht die Herzensdimension. „Du kannst dir 20 Minuten nach dem schönsten Entzug wieder Heroin spritzen, weil dir die 20.000 Kilo, die auf deinem Herzen lasten, keiner abgenommen hat.“ Es sei, als wäre das Herz durch einen Fleischwolf gedreht worden. Daher bleiben die Burschen im Cenacolo drei Jahre oder mehr. „Ich bin Tischler. Nach drei Jahren Lehrzeit bist du noch kein guter Tischler. Und hier geht es um das Leben!“
Einfach ist es nicht, betont Bruder Georg. „Es ist wahrscheinlicher, dass ein Krebskranker gesund wird als ein Süchtiger. Und es ist eine Illusion, Sucht loszuwerden, ohne zu leiden.“ Aber es funktioniert. „Nicht bei allen, aber bei vielen. Unser Ziel ist Lebensfreude. Das ist die einzig wirksame Prävention vor dem Rückfall.“ Im Grunde wüssten alle, was ihnen guttut, denn jeder und jede hat ein Gewissen.
Aber süchtige Menschen können es perfekt manipulieren und alles rechtfertigen. „Ich wünsche den Jungs keine gemütlichen Tage hier. Wenn du einen wirklich zähen Tag durchhältst, ist es ein heiliger Tag. Daran wächst du.“ Die Männer wurden nicht als Junkies geboren, gibt Bruder Georg zu bedenken, sondern als Kinder Gottes. Sie haben vom Leben viel abbekommen, was sie vielleicht zur Droge geführt hat.
Edo Sergo hat im Cenacolo gelernt, im Hier und Jetzt zu leben. „Ich baute oft Luftschlösser“, erinnert er sich. „Hier lerne ich glücklich zu leben. Nicht die Bequemlichkeit zu suchen, sondern mein Leben zu gestalten.“
Cenacolo
Mutter Elvira, mit bürgerlichem Namen Rita Agnese Petrozzi, gründete 1983 die erste Gemeinschaft von jungen Menschen, die in einer tiefen Krise waren. Sie hatte selbst einen alkoholkranken Vater, den sie liebte, wodurch sie Verständnis für die von Substanzen abhängigen jungen Menschen hatte. „Ich liebe dich, aber nicht die Droge“, fasst der Cenacolo-Bruder Georg Schwarz seine Einstellung zu den anderen in der Gemeinschaft zusammen.
Brüder
Wer im Cenacolo lebt, hat einen Eintritt in die Gemeinschaft hinter sich. Die meisten verlassen die Gemeinschaft nach einigen Jahren wieder, um ihr neu gefundenes Leben woanders weiterzuleben. Manche widmen ihr Leben der Gemeinschaft, wie Bruder Georg.
Georg Schwarz hat sich als geweihter Bruder dauerhaft an die Gemeinschaft Cenacolo gebunden.
Gäste
Cenacolo heißt „Abendmahlssaal“. Die Gemeinschaft kam vor 25 Jahren nach Österreich. Nach Kleinfrauenhaid kommen viele Firmgruppen auf Besuch. Burschen aus der Gemeinschaft besuchen Schulen, um von ihrer Erfahrung zu erzählen. An Samstagvormittagen gibt es Informationsgespräche der Gemeinschaft im Raum der Stille am Wiener Hauptbahnhof.
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