Wort zum Sonntag
Herr Bischof, Sie haben das Sozialwort vor 20 Jahren als Diakonie-Direktor mitentwickelt. Rückblickend: Was sind seine Meilensteine?
Bischof Michael Chalupka: Das Wichtigste am Sozialwort war der vierjährige Prozess. Er bestand aus drei Teilen: Zuerst haben mehr als tausend Menschen aus allen Kirchen Eingaben gemacht. Sie haben Themen aus ihrem Arbeitsfeld dargestellt, und wo sie soziale Probleme sehen.
In der zweiten Phase wurde dieses Material vonseiten der Wirtschaft und Politik kommentiert. In der dritten Phase ist das Sozialwort als Gemeinschaftsprojekt aller Kirchen verfasst worden. Der Prozess war spannend, weil alle, die sich in Österreich sozial und kirchlich engagieren, zu Wort gekommen sind. Das ist ein ganz seltenes Kunststück, wenn das gelingt.
Im Unterschied zum Sozialwort der deutschen Kirchen, das ein evangelisch-katholisches Sozialwort ist, waren hier alle 14 Kirchen, die damals anerkannt waren, eingebunden. Insbesondere die Orthodoxie hatte einen prominenten Stellenwert in der Zusammenarbeit.
Und was noch besonders wichtig war: Es blieb nicht bei der Analyse und bei Empfehlungen für die Politik. Auf jedes Kapitel folgt eine Selbstverpflichtung, ein Programm, das sich die Kirchen selbst gegeben haben.
Hat das Sozialwort etwas bewirkt?
Chalupka: Ja. Es war zum Beispiel ein Mosaikstein für die Einführung der bedarfsorientierten Mindestsicherung. Das Anliegen wurde von der Armutskonferenz ins Sozialwort reklamiert, von den Kirchen mitgetragen und von der Politik umgesetzt. Mittlerweile wurde die Mindestsicherung leider wieder abgeschafft.
Ein anderer Punkt war das Kapitel über die Schöpfungsbewahrung. Hier haben die Kirchen prophetisch gesprochen. Vor 20 Jahren wusste man schon von der Klimakrise, aber sie war nicht so im Bewusstsein wie heute.
Bei der Sozialwort-Präsentation vor 20 Jahren
Auch Genderfragen waren damals nicht so präsent wie heute. In der Steuerungsgruppe des Sozialworts war ÖRKÖ-Vorsitzende Gleixner die einzige Frau …
Chalupka: Außer der evangelischen Kirche sind alle Kirchen immer noch männlich vertreten, das ist keine Überraschung. Wobei ich es gerade beim Sozialwort differenziert sehe, weil es so ein breiter Beteiligungsprozess war. Es haben alle Gruppen – ob Frauen, Männer, Laien, Geistliche – hier mitwirken können und haben es auch getan.
Dennoch hat das „Ökumenische Forum Christlicher Frauen in Österreich“ ein „Ökumenisches Sozialwort der Frauen“ herausgegeben, das als Ergänzung in den Prozess aufgenommen wurde. Das zeigt schon, dass da eine Lücke gefüllt werden musste.
Der damalige Prozess erinnert in seiner Struktur ein wenig an den derzeitigen synodalen Prozess der katholischen Kirche. Wie sehen Sie diesen Prozess von außen?
Chalupka: Grundsätzlich freuen wir uns über synodale Prozesse als evangelische Kirche, die das in ihrer DNA hat. Ich sehe aber auch Unterschiede. Wir haben ein synodales System, das von der Priesterschaft aller Gläubigen ausgeht. Wir streben eine hohe Repräsentanz der Kirchenmitglieder, anders gesagt des Volkes Gottes, an. Wobei wir das auch nicht immer erreichen.
Gerade jetzt haben wir eine Quotenregelung eingeführt, weil wir zu wenige Menschen unter 30 in der Synode haben. Wir wollen mehr Jugend, die für sich selbst sprechen kann. Der synodale Prozess hingegen ist eine angereicherte Bischofssynode. Das entspricht nicht unserem Bild.
Die Drehscheibe des Sozialwort-Prozesses war die Katholische Sozialakademie, die es so nicht mehr gibt. Geht sie Ihnen ab?
Chalupka: Es braucht sicher intermediäre Einrichtungen, die zwischen Kirche und Gesellschaft vermitteln. Die ksoe hatte diese Rolle für das Sozialwort übernommen. Ohne diese Plattform, die von der größten Mitgliedskirche des ÖRKO zur Verfügung gestellt wurde, wäre es nicht gegangen. Die kleineren Kirchen hätten das nicht geschafft. So etwas ist also notwendig. In welcher Form das sein soll, wage ich von außen nicht zu beurteilen.
Aber solche Einrichtungen, die übersetzen, sind wichtig. Dass diese Einrichtungen derzeit unter Druck kommen, hängt auch damit zusammen, dass die Kirchen – und das gilt für alle – im Moment mit sich selbst und ihren Umstrukturierungen beschäftigt sind. Sie erfüllen zwar ihren geistlichen und sozialen Auftrag, aber in der öffentlichen Wahrnehmung rückt das in den Hintergrund.
Nicht nur die Kirche verändert sich, auch in der Gesellschaft gibt es neue Herausforderungen wie Künstliche Intelligenz oder Fachkräftemangel …
Chalupka: Naja, auch vor 20 Jahren war klar, wie sich die Demographie entwickelt, und dass wir Zuwanderung brauchen. Man hat genau gewusst, wie viele Kinder im Jahr geboren werden und dass das sehr viel weniger sind als in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, nämlich 1960. Das waren die Babyboomerjahre.
Man hat also gewusst, dass wir für die wirtschaftliche Entwicklung Zuwanderung brauchen. Sich auf der einen Seite über den Fachkräftemangel zu beschweren und auf der anderen Seite sogar Menschen, die in einer Lehre sind oder als Pflegerinnen oder Pfleger arbeiten, abzuschieben, diese Absurdität gibt es leider schon lange.
Brauchen wir ein neues Sozialwort?
Chalupka: Da bin ich mir nicht sicher. Erstens glaube ich, dass es in der derzeitigen ökumenischen und politischen Situation nicht so leicht möglich wäre wie damals. Es war ein besonderer Moment, der genutzt worden ist, und das war gut so.
Zum anderen gibt es viele Dinge, die noch umzusetzen sind. Es braucht eine wirkliche Armutssicherung, keine Almosen! Gut, dass die Sozialhilfe im richtigen Moment inflationsangepasst wurde. Sonst wäre die Katastrophe der Teuerung noch viel größer. Trotzdem braucht es ein System, das armutsfest ist. Dieses Land müsste eigentlich keine Armut haben, besonders keine Kinderarmut.
Welche Punkte sind noch offen?
Chalupka: Nachdem das Sozialwort erschienen war, gab es eine vierte Phase, nämlich Gespräche mit allen politischen Parteien und Stakeholdern. Einer der wesentlichen Punkte dabei war die Sozialverträglichkeitsprüfung. Das finde ich immer noch eine wichtige Idee. Dass bei jedem Gesetz, das durch das Parlament geht, dargestellt werden muss, welche Auswirkungen es auf das soziale Zusammenleben, auf die Armutsgefährdung, auf die Verteilung hat.
Das hätten wir zum Beispiel beim Familienbonus gebraucht, der nicht zu den Armen verteilt. Die Sozialverträglichkeitsprüfung wurde aber nie eingeführt. Deswegen glaube ich nicht, dass es jetzt etwas bringt, ein neues Sozialwort herauszugeben. Kirchen müssen sich sowieso zu Wort melden im Blick auf das Zusammenleben.
Ein weiterer Punkt, den die Kirchen einzubringen haben, ist, dass sie weltweit sind. Daher betrifft es uns unmittelbar, wenn Brüder und Schwestern in Kiribati von der Klimakatastrophe bedroht sind und umgesiedelt werden müssen.
Da ist es unsere Aufgabe, in diesem engen Nationalismus, der sich politisch immer wieder Bahn bricht, zu betonen, dass wir Weltbürger und Weltbürgerinnen sind, oder christlich gesagt: Teil des Leibes Christi.
Am 1. Adventsonntag 2003 veröffentlichte der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) unter dem Vorsitz von Christine Gleixner FvB, allgemein bekannt als Oberin Gleixner, sein gemeinsames Sozialwort. Alle 14 damaligen ÖRKÖ-Mitgliedskirchen hatten es erarbeitet und unterzeichnet.
Drehscheibe des vierjährigen Prozesses war die Katholische Sozialakademie (ksoe) mit ihrem Direktor, Alois Riedlsperger SJ. Mehr als tausend Personen und gut hundert Organisationen waren involviert.
Die großen Themenblöcke waren Bildung, Medien, sozialer Zusammenhalt, Lebensräume Land/Stadt/Europa, Arbeit, Wirtschaft, soziale Sicherheit, Frieden, Gerechtigkeit sowie Schöpfungsverantwortung und Nachhaltigkeit. Rund zehn Jahre später wurde der einjährige Prozess „Sozialwort 10+“ von der ksoe umgesetzt.
Zum 20-Jahr-Jubiläum organisiert der ÖRKÖ die Reihe „Sozialwort 20+“. In Gottesdiensten geben Gäste aus jeweils anderen Kirchen Impulse zu wesentlichen Themen des Sozialworts und greifen noch fehlende Themen auf.
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