Wort zum Sonntag
Wie nehmen Sie die aktuelle Situation des nun schon dritten Lockdowns wahr?
Univ.-Prof. Michael Rosenberger: Immer mehr Menschen kommen an das Ende ihrer Kräfte und Ressourcen – auch finanziell. Wir befinden uns in einer schwierigen, ja bedrohlichen Phase. Die Situation ist zum Zerreißen gespannt.
Was ist die Kernbotschaft Ihres Buches?
Rosenberger: Seine Grundbotschaft lautet, dass in unserer christlichen Spiritualität vieles steckt, was uns zur Quelle der Kraft werden kann. Ich habe spirituelle Praktiken ausgewählt und beschrieben, die meiner Meinung nach großes hilfreiches Potential besitzen – und zwar für alle Menschen, unabhängig davon, ob sie Muslime, Juden, Hinduisten, Atheisten oder Christen sind.
Wie kann man sich das vorstellen: eine Spiritualität, die für alle Menschen bedeutsam ist?
Rosenberger: Jeder Mensch – ob gläubig oder nicht – trägt in sich etwas, woraus er Kraft schöpft und was ihm hilft, den Weg der Liebe zum Leben und den Menschen zu gehen. Das verstehe ich unter Spiritualität. Wenn wir im Christentum klar herausstellen, was der Kern unserer Spiritualität ist, was also Kraftquellen sind, kristallisieren sich urmenschliche Erfahrungen heraus, die jeder und jede mitvollziehen kann. Da geht es etwa um Dankbarkeit, Ehrfurcht, Genussfähigkeit, Hingabe und Einsatz für andere. Das verbindet uns mit allen Menschen. Das ist eine Form der Ökumene, die bisher noch wenig beachtet wurde, aber im 2. Vatikanischen Konzil grundgelegt ist: Durch Freude und Trauer, Angst und Hoffnung sind wir mit allen Menschen verbunden.
Können Sie ein Beispiel einer spirituellen Übung geben, die über das Christentum hinaus für alle Menschen hilfreich sein kann?
Rosenberger: Das dankbare Zurückschauen auf den Tag ist so eine Übung. Es geht nicht darum, die Ereignisse des Tages zu bewerten, sondern wie einen Film ablaufen zu lassen. Vielleicht hat mich in der Straßenbahn ein Kind angelächelt. Im Trubel des Tagesgeschäfts ist diese kurze Begegnung völlig untergegangen, aber am Abend taucht sie wieder auf und ich kann diesen kleinen Moment als großes Geschenk erleben. Zehn Minuten in einen Tagesrückblick zu investieren ist eine Form von Spiritualität, die nicht kompliziert, aber enorm bereichernd ist. Als Christ werde ich die Tagesrückschau mit einem Gebet zu Gott beschließen. Dankbar für den Tag sein kann aber auch ein Atheist. Wenn ich mir vorstelle, dass alle Menschen dankbar wären, würde es in unserer Welt anders ausschauen.
Ein Kapitel Ihres Buches haben Sie betitelt mit „Dem Leben Rituale geben“. Welche Bedeutung haben Rituale?
Rosenberger: Gerade jetzt in der Zeit der Corona-Pandemie sind bislang ganz selbstverständlich zum Alltag gehörende Rituale plötzlich nicht mehr erlaubt – wie sich beim Grüßen die Hand zu geben oder sich zu umarmen. Corona ist ein Impuls zu überlegen, was uns Rituale bedeuten und ob nicht gerade während des Lockdowns neue Rituale eine Hilfe sein könnten. Wenn Eltern und Kinder Tag für Tag im Homeoffice sind, geht das an die Grenzen. Vielleicht kann es angebracht sein, ein Ritual einzuführen, das den Alltag zusätzlich strukturiert – zum Beispiel gemeinsam ein Lied vor dem Essen zu singen. Manche Eltern segnen ihre Kinder, wenn sie außer Haus gehen. Auch das ist ein sehr schönes Ritual, das Qualität in die Beziehung bringt und sie prägt.
Breiten Raum geben Sie in Ihrem Buch dem Thema „Erdung und Öffnung der Spiritualität“. Sie nehmen dabei die wirklich Nächsten in den Blick: den/die Partner/in, Kinder, Freundinnen, Freunde.
Rosenberger: Spiritualität birgt die Gefahr, sehr schnell abzuheben und realitätsfern zu werden. Sie braucht die Verankerung im alltäglichen Leben. Spiritualität darf zu keiner Scheinwelt und Zweitwelt werden, in die man sich flüchten kann. Sie will vielmehr eine andere Blickrichtung im ganz gewöhnlichen Alltag mit den vertrauten Menschen ermöglichen und ermutigen, mit Zuversicht, Hoffnung und Liebe auf Welt zu schauen. Auch Konflikte mit meinen unmittelbar Nächsten haben hier ihren Platz: Sie können zum Ort des spirituellen Lernens werden.
Die katholische Tradition hat einen reichen Schatz an Spiritualität, aber irgendwie scheint er nicht recht attraktiv zu sein.
Rosenberger: Das ist ein Phänomen jeder Religion, dass die spirituellen Schätze oft überlagert sind mit Ornamentik. Wir verwenden zum Beispiel in unseren liturgischen Gebeten Floskeln aus dem römischen Kaiserkult. Kein Mensch versteht das. Diese Überlagerung muss weggenommen werden. Wir müssen das Wesentliche stärken, damit existentielle Erfahrungen zur Sprache kommen können. «
Das Interview führte Josef Wallner
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